|
Protagoras
Protagoras, gebürtig aus Abdera, ist etwas älter als Sokrates gewesen. Sonst ist nicht viel von ihm bekannt, was auch eben nicht sein kann, denn er hat einförmiges Leben geführt. Er hat sein Leben mit dem Studium der Wissenschaften hingebracht; er reiste in Griechenland umher, gab sich zuerst den Namen Sophist und wurde so im eigentlichen Griechenland angegeben, als erster öffentlicher Lehrer aufgetreten zu sein. Er hat seine Schriften vorgelesen wie die Rhapsoden und die Dichter, welche - jene fremde, diese eigene - Gedichte absangen.1) Es gab damals keine Lehranstalten, keine Bücher, aus denen man sich unterrichten konnte. Die Hauptsache zur Bildung, Erziehung bestand bei den Alten nach Platon2) wesentlich darin, in den Gedichten stark zu sein, mit vielen Gedichten bekannt zu werden, sie auswendig zu wissen; wie bei uns noch vor 50 Jahren der Hauptunterricht des Volkes darin bestand, mit der biblischen Geschichte, mit biblischen Sprüchen bekannt zu sein; Prediger, die weiter darauf bauten, gab es nicht. Die Sophisten gaben jetzt statt der Dichterkenntnis Bekanntschaft mit dem Denken. Protagoras kam auch nach Athen und hat dort lange, vornehmlich mit dem großen Perikles gelebt, der auch in diese Bildung einging. So sollen beide einst einen ganzen Tag darüber gestritten haben, ob der Wurfspieß oder der Werfende oder derjenige, der die Wettspiele veranstaltet, schuld sei am Tode eines Menschen, der dabei umgekommen.3) Es ist ein Streit über die große und wichtige Frage der Zurechnungsfähigkeit. Schuld ist ein allgemeiner Ausdruck; wenn man ihn analysiert, so kann dies allerdings eine schwierige, weitläufige Untersuchung geben. Im Umgange mit solchen Männern bildete sich Perikles so überhaupt seinen Geist zur Beredsamkeit aus; denn es sei welche Art geistiger Beschäftigung es wolle, es kann nur ein gebildeter Geist groß in ihr sein, und die wahre Bildung ist nur durch die reine Wissenschaft möglich. Perikles ist mächtiger Redner; aus Thukydides sehen wir, wie tiefes Bewußtsein er über den Staat, sein Volk hatte. Auch Protagoras hat das Schicksal des Anaxagoras gehabt, gleichfalls aus Athen später verbannt zu werden. (In einem Alter von 70 (90) Jahren ertrank er auf der Fahrt nach Sizilien.) Die Ursache dieses Urteils war eine Schrift von ihm, welche so begann: "Von den Göttern weiß ich es nicht zu erkennen, weder ob sie sind, noch ob sie nicht sind; denn vieles ist, was diese Erkenntnis verhindert, die Dunkelheit der Sache (ἀδηλότης) sowohl als auch das Leben der Menschen, das so kurz ist." Dies Buch ist auch in Athen öffentlich verbrannt worden, und es ist wohl (so viel man weiß) das erste, was auf Befehl eines Staats verbrannt wurde.4)
Protagoras war nicht wie andere Sophisten bloß bildender Lehrer, sondern auch ein tiefer, gründlicher Denker, ein Philosoph, der über ganz allgemeine Grundbestimmungen reflektiert hat. Den Hauptsatz seines Wissens sprach er nun aber so aus: "Von allen Dingen ist das Maß der Mensch; von dem, was ist, daß es ist, - von dem, was nicht ist, daß es nicht ist."5) Dies ist ein großer Satz. Einerseits war es darum zu tun, das Denken als bestimmt zu fassen, einen Inhalt zu finden, andererseits aber ebenso das Bestimmende, den Inhalt Gebende; und diese allgemeine Bestimmung ist das Maß, der Maßstab des Werts für alles. Daß Protagoras nun ausgesprochen, der Mensch sei dies Maß, dies ist in seinem wahren Sinne ein großes Wort, hat aber zugleich auch die Zweideutigkeit, daß, wie der Mensch das Unbestimmte und Vielseitige ist, α) jeder nach seiner besonderen Partikularität, der zufällige Mensch, das Maß sein kann, oder β) die selbstbewußte Vernunft im Menschen, der Mensch nach seiner vernünftigen Natur und seiner allgemeinen Substantialität das absolute Maß ist. Auf jene Weise genommen ist alle Selbstsucht, aller Eigennutz, das Subjekt mit seinen Interessen der Mittelpunkt (und wenn auch der Mensch die Seite der Vernunft hat, so ist doch auch die Vernunft ein Subjektives, ist auch er, ist auch der Mensch); dies aber ist gerade der schlechte Sinn, die Verkehrtheit, welche man den Sophisten zum Hauptvorwurf machen muß, daß sie den Menschen nach seinen zufälligen Zwecken zum Zwecke setzten, - daß bei ihnen noch nicht das Interesse des Subjekts nach seiner Besonderheit und das Interesse desselben nach seiner substantiellen Vernünftigkeit unterschieden sind. Derselbe Satz kommt bei Sokrates und Platon vor, aber in weiterer Bestimmung; hier ist der Mensch das Maß, indem er denkend ist, sich einen allgemeinen Inhalt gibt.
Es ist also hier der große Satz ausgesprochen, um den sich von nun an alles dreht. Der fernere Fortgang der Philosophie hat den Sinn, daß die Vernunft das Ziel aller Dinge ist; dieser Fortgang der Philosophie gibt Erläuterung dieses Satzes. Näher drückt er die sehr merkwürdige Konversion aus, daß aller Inhalt, alles Objektive nur ist in Beziehung auf das Bewußtsein, das Denken also bei allem Wahren hier als wesentliches Moment ausgesprochen ist; und damit nimmt das Absolute die Form der denkenden Subjektivität an, die besonders bei Sokrates hervorgetreten ist. Der Mensch ist das Maß von allem, - der Mensch, also das Subjekt überhaupt; das Seiende ist also nicht allein, sondern es ist für mein Wissen, - das Bewußtsein ist im Gegenständlichen wesentlich das Produzierende des Inhalts, das subjektive Denken ist wesentlich dabei tätig. Und dies ist das, was bis in die neueste Philosophie reicht; Kant sagt, daß wir nur Erscheinungen kennen, d. h. daß das, was uns als objektiv, als Realität erscheint, nur zu betrachten ist in seiner Beziehung auf das Bewußtsein und nicht ist ohne diese Beziehung. Das zweite Moment ist wichtiger. Das Subjekt ist das Tätige, Bestimmende, bringt den Inhalt hervor; und nun kommt es darauf an, wie dann der Inhalt sich weiter bestimmt: ob er beschränkt ist auf die Partikularität des Bewußtseins oder ob er als das Allgemeine für sich seiende bestimmt ist. Gott, das Platonische Gute ist ein Produkt des Denkens, ein vom Denken Gesetztes; zweitens aber ist es ebensosehr an und für sich. Ich erkenne nur an als seiend, fest, ewig ein solches, was seinem Gehalte nach das Allgemeine ist; gesetzt ist es von mir, aber es ist auch an sich objektiv allgemein, ohne daß es von mir gesetzt ist.
Die nähere Bestimmung, die in dem Satze des Protagoras enthalten ist, hat er dann selbst viel weiter ausgeführt. Protagoras sagt: "Die Wahrheit (das Maß) ist die Erscheinung für das Bewußtsein."6) "Nichts ist an und für sich Eines" oder sich selbst gleich, an sich; sondern alles ist nur relativ, ist nur, was es ist, in seiner Beziehung aufs Bewußtsein, - ist nur, wie es für ein Anderes ist, und dieses Andere ist der Mensch. Er führt geringfügige Beispiele an (wie auch Sokrates und Platon; sie halten daran die Seite der Reflexion fest); und diese Erläuterung zeigt, daß im Sinn des Protagoras das, was bestimmt ist, nicht gefaßt wird als das Allgemeine, nicht als das Sichselbstgleiche. Diese Relativität ist bei Protagoras auf eine Weise ausgesprochen, die uns zum Teil trivial erscheint und zu den ersten Anfängen des reflektierenden Denkens gehört. Die Beispiele sind besonders aus der sinnlichen Erscheinung genommen: "Es geschieht bei einem Winde, daß den einen friert, den anderen nicht; von diesem Winde können wir daher nicht sagen, er sei an ihm selbst kalt oder nicht kalt." Frost und Wärme sind also nicht etwas Seiendes, sondern nur nach dem Verhältnis zu einem Subjekte; wäre der Wind an sich kalt, so müßte er sich immer so am Subjekte geltend machen. Oder weiter: "Es sind hier 6 Würfel, wir stellen 4 andere neben sie, so werden wir von jenen sagen, es seien Ihrer mehr; hingegen 12 neben sie gesetzt, sagen wir, diese 6 seien weniger."7) Wir sagen also von demselben, es sei mehr oder weniger, mithin ist das Mehr und Weniger eine bloß relative Bestimmung; was also der Gegenstand (das Allgemeine) ist, ist er nur in der Vorstellung für das Bewußtsein. "Alles hat also nur relative Wahrheit"8) , wie es ausgedrückt werden kann; Platon dagegen betrachtete Eins und Vieles nicht wie die Sophisten in verschiedener Rücksicht, sondern in einer und derselben. "Wie dem Gesunden die Dinge erscheinen, so sind sie nicht an sich, sondern für ihn; wie sie dem Kranken, Wahnsinnigen erscheinen, so ihm, - ohne daß man sagen könnte, so wie sie den letzteren erscheinen, seien sie nicht wahr."9)
Wir fühlen gleich das Ungeschickte, dieses wahr zu nennen; α) das Seiende ist wohl aufs Bewußtsein bezogen, aber nicht auf das Feste des Bewußtseins, sondern auf die sinnliche Erkenntnis; β) dieses Bewußtsein ist selbst ein Zustand, d. h. selbst etwas Vorübergehendes. "Das gegenständliche Wesen ist", wie Heraklit sagte, "ein reines Fließen, es ist nicht Festes und Bestimmtes an sich, sondern kann alles sein und ist etwas Verschiedenes für verschiedenes Alter und sonstige Zustände des Wachens und Schlafens usf."10) Platon führt hierüber noch ferner an11) : "Das Weiße, Warme usf., alles, was wir von den Dingen aussagen, ist nicht für sich; sondern das Auge, das Gefühl ist notwendig, daß es für uns sei. Erst diese gegenseitige Bewegung ist die Erzeugung des Weißen; und es ist darin nicht das Weiße als Ding an sich, sondern was vorhanden ist, ist ein sehendes Auge oder das Sehen überhaupt und bestimmt das Weiß-Sehen, das Warm-Fühlen usf. " Allerdings ist wesentlich Warm, Farbe usf. nur in Beziehung auf Anderes; aber das Vorstellen (der Geist) entzweit sich ebenso in sich und in eine Welt; und in dieser Welt hat jedes auch seine Relation. Diese objektive Relativität ist besser in Folgendem ausgedrückt: "Wenn das Weiße an sich wäre, so wäre es also das, was die Empfindung von ihm hervorbrächte; es wäre das Tätige oder die Ursache, wir hingegen das Passive, Aufnehmende. Allein der Gegenstand, der so also tätig sein sollte, ist nicht tätig als in Beziehung (zusammen-) kommend mit dem Passiven (οὔτε γὰϱ ποιουν τι ἐστὶ, πϱὶν ἂν τῳ πάσχοντι ξυνέλϑῃ); ebenso das Leidende ist nur in Beziehung aufs Tätige. (So ist Passivität und Tätigkeit auch relativ.) Was für Bestimmtheit also ich von etwas aussage, so kommt diese dem Dinge nicht an sich zu, sondern schlechthin in Beziehung auf Anderes. Nichts ist also an und für sich so beschaffen, wie es erscheint; sondern das Wahre ist eben nur dies Erscheinen." Es gehört so hier unsere Tätigkeit, unser Bestimmen dazu. Kants Erscheinung ist nichts anderes, als daß draußen ein Anstoß, ein x, ein Unbekanntes sei, was erst durch unser Gefühl, durch uns diese Bestimmungen erhält. Wenn auch ein objektiver Grund vorhanden ist, daß wir dies kalt, jenes warm nennen, so können wir zwar sagen, sie müssen Verschiedenheit in sich haben; aber Wärme und Kälte ist erst in unserer Empfindung, ebenso daß Dinge sind usw. Dies alles sind Kategorien des Denkens, Bestimmungen unserer Tätigkeit der Sinne oder des Denkens; so ist die Erfahrung Erscheinung genannt worden, es sind Relationen auf uns, auf Anderes. Das ist ganz richtig! Aber eben dieses Eine, Durchgehende, Allgemeine ist zu fassen; es ist dies Durchgreifende, was bei Heraklit die Notwendigkeit war, das zum Bewußtsein zu bringen ist.
Wir sehen, daß Protagoras große Reflexion hat. Dies ist also die Reflexion auf das Bewußtsein, die im Protagoras selbst zum Bewußtsein gekommen ist. Dies aber ist die Form der Erscheinung, zu der Protagoras kam und die von den späteren Skeptikern wieder aufgenommen ist. Das Erscheinen ist nicht das sinnliche Sein; sondern indem ich sage, es ist erscheinend, so sage ich eben sein Nichts aus. "Die Erscheinung ist die Wahrheit", scheint sich ganz zu widersprechen; es scheint, daß das Entgegengesetzte hier behauptet werde: α) daß nichts an sich ist, wie es erscheint, und β) daß es wahr ist, wie es erscheint. Allein dem Positiven, was das Wahre ist, muß nicht objektive Bedeutung gegeben werden, daß z. B. dies weiß sei an sich, weil es so erscheint, sondern nur dies Erscheinen des Weißen ist wahr; die Erscheinung ist eben das sich aufhebende sinnliche Sein, - diese Bewegung. Sie allgemein aufgefaßt, so steht sie ebenso über dem Bewußtsein wie über dem Sein. Die Welt ist nicht Erscheinung darin, daß sie für das Bewußtsein ist, also ihr Sein nur ein relatives für das Bewußtsein, sondern ebenso an sich.
Im Allgemeinen ist das Moment des Bewußtseins aufgezeigt worden; das entwickelte Allgemeine hat das Moment des negativen Sein-für-Anderes an ihm; dies Moment tritt hier hervor und ist notwendig zu behaupten. Aber für sich allein, isoliert, ist es einseitig: "Was ist, ist nur für das Bewußtsein, oder die Wahrheit aller Dinge ist die Erscheinung derselben für und im Bewußtsein"; ebenso notwendig ist das Moment des Ansichseins.
1) Diogenes Laertios IX, § 50, 54
2) Protagoras, 338
3) Plutarch, Perikles (36)
4) Diogenes Laertios IX, § 51-52; Sextus Empiricus, Adversus mathematicos IX, § 56
5) Platon, Theaitetos, 152; Sextus Empiricus, Pyrrhoniae hypotyposes I, 32, § 216
6) Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII, § 388; Platon, Theaitetos, 152
7) Platon, Theaitetos, 152, 154
8) Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII, § 60
9) Platon, Theaitetos, 159
10) Sextus Empiricus, Pyrrhoniae hypotyposes I, 32, § 217-219
11) Theaitetos, 153-157
(HEGEL: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie >>>)
|