4. Gegensatz von Realismus und Nominalismus
Ein Weiteres, was anzuführen ist, ist ein Hauptgesichtspunkt, der das Mittelalter interessiert hat. Eine eigentümliche philosophische Frage zog sich nahezu durch alle Zeiten der Scholastik hindurch, die in dem Streit der Realisten und Nominalisten enthalten war. Was nun diesen im allgemeinen betrifft, so bezieht er sich auf den metaphysischen Gegensatz des Allgemeinen und des Individuellen und beschäftigt die scholastische Philosophie mehrere Jahrhunderte und macht ihr große Ehre. Man unterscheidet ältere und neuere Nominalisten und Realisten.
a. Roscelin
Der Ursprung des Streites steigt bis in das 11. Jahrhundert zurück; und der berühmte Abaelard tritt schon als Gegner des Roscelin auf. Roscelin ist der älteste Nominalist - er schrieb auch gegen die Dreieinigkeit1) und wurde 1092 auf einer Kirchenversammlung von Soissons wegen Ketzerei verdammt; er hatte aber noch wenig Einfluß. Auch Abaelard war älterer Nominalist.
Es handelt sich um das universale, d. h. das Allgemeine überhaupt oder die Gattung, das Wesen der Dinge, was bei Platon Idee genannt wurde; so Sein, Menschheit, Tier. Die Nachfolger Platons behaupteten das Sein dieser Allgemeinen; man vereinzelte dieses, die Tischigkeit sollte auch real sein. Der Streit ist nun dieser, ob diese Allgemeinen etwas Reales an und für sich selbst seien außer dem denkenden Subjekte und unabhängig seien von dem einzelnen existierenden Dinge oder ob das Allgemeine nur nominal sei, nur in der subjektiven Vorstellung, ein Gedankending. Wir machen uns Vorstellungen von dem Dinge, sagen "es ist blau"; dieses ist ein Allgemeines. Sind solche Allgemeinheiten real außerhalb des Gedankens, so daß sie in den einzelnen Dingen von der Individualität des Dinges und gegeneinander selbständig existieren? Diejenigen, welche behaupteten, daß die Universalien außer dem denkenden Subjekte unterschieden vom einzelnen Dinge ein existierendes Reales seien, das Wesen der Dinge allein die Idee sei, hießen Realisten, - hier in ganz entgegengesetztem Sinne gegen das, was heutigentags Realismus heißt. Dieser Ausdruck hat bei uns nämlich den Inhalt, daß die Dinge, wie sie unmittelbar sind, eine wirkliche Existenz haben; und der Idealismus steht dem entgegen. Idealismus nannte man später die Philosophie, welche den Ideen allein Realität zuschrieb, indem er behauptet, daß die Dinge, wie sie in der Einzelheit erscheinen, nicht ein Wahrhaftes sind. Der Realismus der Scholastiker behauptet, daß das Allgemeine ein Selbständiges, Fürsichseiendes, Existierendes sei: die Ideen sind nicht der Zerstörung unterworfen wie die natürlichen Dinge, unveränderlich und allein ein wahres Sein. Wogegen die anderen, die Nominalisten oder Formalisten, behaupteten, das Universale sei nur Vorstellung, subjektive Verallgemeinerung, Produkt des denkenden Geistes; wenn man Gattungen usf. formiere, so seien dies nur Namen, Formelles, ein von der Seele Gebildetes und Subjektives, Vorstellungen für uns, die wir machen, - nur das Individuelle sei das Reale.
Dies ist nun der Gegenstand; er ist von großem Interesse und ist ein viel höherer Gegensatz, als die Alten gekannt haben. Roscelin legte die allgemeinen Begriffe bloß in das Bedürfnis der Sprache. Er behauptete, die Allgemeinen seien nichts als bloße abstrakte Begriffe, - daß die Ideen oder Universalien, Sein, Leben, Vernunft, bloße Gattungsnamen und an sich nichts Reales seien; daß Seiendes dabei nur sei im Individuum, nicht das Sein selbst, Lebendiges nur sei im Individuum; das Leben selbst als solches für sich habe nicht eine eigentümliche allgemeine Realität.2) Die Geschichte der Realisten und Nominalisten ist sonst sehr dunkel, wir wissen mehr übers Theologische als über diese Seite; sie zerfielen in mehrere besondere Meinungen und Schattierungen.
1) Anselmus, De fide trinitatis, c. 2-3; Epistolae XLI, 11
2) Rixner, Handbuch der Geschichte der Philosophie, Bd. II, S. 26; Anselmus, De fide trinitatis, c. 2
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