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Pythagoras und die Pythagoreer
Die Nachrichten von seinem Leben sind mit vielen späteren Fabeln verunstaltet. Die späteren Neupythagoreer haben viele große Lebensbeschreibungen von ihm gemacht, sie sind besonders über den pythagoreischen Bund sehr weitläufig; aber man muß sich in acht nehmen, dies nicht als geschichtlich gelten zu lassen.
Das Leben des Pythagoras erscheint uns zunächst in der Geschichte, durch das Medium der Vorstellungsweise der ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt, in dem Geschmacke mehr oder weniger, wie das Leben Christi uns erzählt wird, auf dem Boden gemeiner Wirklichkeit, nicht in einer poetischen Welt, als ein Gemisch von wunderbaren, abenteuerlichen Fabeln, als ein Zwitter von morgen- und abendländischen Vorstellungen. An das Ausgezeichnete seines Genies und seiner Lebensweise und der Lebensweise, die er bei seinen Schülern einführte, ist geknüpft worden, daß man ihn als einen Mann erscheinen läßt, bei dem es nicht mit rechten Dingen zugegangen, sondern der für einen Wundermann, für einen Gesellschafter höherer Wesen galt. Alle die Vorstellungen der Magier, die Vermischungen von Unnatürlichem mit dem Natürlichen, die Mysterienkrämerei trüber, jämmerlicher Einbildung und Schwärmerei verdrehter Köpfe haben sich an ihn geknüpft.
So verdorben, als seine Lebensgeschichte ist, ebenso verdorben wurde seine Philosophie - (Platons Aufnehmung war ganz unterschieden); alles, was der christliche Trübsinn und Allegorismus ausgeheckt hat, ist damit verknüpft worden. Zahlen als Ausdrücke von Idee brauchen, ist viel gebraucht worden; es hat einerseits den Schein von Tiefsinn, denn daß eine andere Bedeutung darin liegt, als unmittelbar darin liegt, erhellt sogleich - (Eins ist Zwei, und Drei macht Vier: das Hexeneinmaleins); wieviel aber darin liegt, weiß weder der, der es ausspricht, noch der, der sie zu verstehen sucht. Je trüber die Gedanken werden, desto tiefsinniger scheinen sie; die Hauptsache ist, daß gerade das Wesentlichste, aber das Schwerste - in bestimmten Begriffen sich auszusprechen - erspart wird. So kann auch seine Philosophie, indem auch hier in den Nachrichten von ihr auf sie übergetragen, demnach als eine ebenso dunkle und unsichere Ausgeburt trüber, flacher Köpfe erscheinen.
Zum Glück, was seine Philosophie betrifft, so kennen vorzüglich wir ihre theoretisch spekulative Seite aus Aristoteles und Sextus Empiricus, die sich viel damit zu tun gemacht. Obgleich spätere Pythagoreer den Aristoteles wegen seiner Darstellung verunglimpfen, so ist er doch über ein solches Verschreien erhaben, und es ist darauf keine Rücksicht zu nehmen.
Es sind in späteren Zeiten eine Menge untergeschobener Schriften unter seinem Namen in die Welt gebracht worden. Diogenes Laertios (VIII, § 6-7) führt viele Schriften von ihm an und andere, die ihm untergeschoben worden, weil man ihnen eine Autorität verschaffen wollte. Aber erstens haben wir keine Schriften von Pythagoras, zweitens ist es zweifelhaft, ob Schriften von Pythagoras vorhanden waren. Wir haben Anführungen derselben, dürftige Fragmente, aber nicht des Pythagoras, sondern der Pythagoreer. Welche Entwicklungen und Bedeutungen den älteren und welche den neueren gehören, ist nicht bestimmt zu unterscheiden. Bei Pythagoras und den älteren Pythagoreern haben die Bestimmungen noch nicht die konkrete Ausführung gehabt wie später.
Was die Lebensumstände des Pythagoras betrifft, so blühte er nach Diogenes Laertios (VIII, § 1-3; 45) um die 60. Olympiade (540 v. Chr.). Seine Geburt wird gewöhnlich in die 49. oder 50. Olympiade (584 v. Chr.), von Larcher am frühsten, schon in die 43. Olympiade (43, I, d. i. 608 v. Chr.) gesetzt.12) Er ist also ein Zeitgenosse des Thales und Anaximander. Wenn Thales' Geburt in die 38. Olympiade und Pythagoras' in die 43. fällt, so ist Pythagoras nur 21 Jahre jünger. Von Anaximander (Ol. 42, 3) ist er entweder nur ein paar Jahre unterschieden oder dieser 26 Jahre älter. Anaximenes ist etwa 20 bis 25 Jahre jünger als Pythagoras. Sein Vaterland ist die Insel Samos, und er gehört daher ebenso den kleinasiatischen Griechen an, wo wir bisher den Sitz der Philosophie sahen. Pythagoras ist bei Herodot (IV, 94-96) erwähnt als des Mnesarchos Sohn, bei dem Zamolxis in Samos als Sklave gedient habe. Zamolxis sei frei geworden, habe Reichtümer erworben, sei Fürst der Geten geworden und habe behauptet, er und die Seinigen sterben nicht. Er habe eine unterirdische Wohnung erbaut, dort sich den Augen seiner Untertanen entzogen, sei nach vier Jahren wieder erschienen.113) Herodot meint aber, Zamolxis sei wohl viel älter als Pythagoras.
Seine Jugend brachte er am Hofe des Polykrates zu, unter dessen Herrschaft Samos damals nicht nur zum Reichtum, sondern auch zu Bildung und Künsten gelangt war; es besaß in dieser glänzenden Periode eine Flotte von hundert Schiffen.14) Sein Vater Mnesarchos war ein Künstler (Steinschneider), doch weichen die Nachrichten sowie auch über sein Vaterland ab, die angeben, daß seine Familie aus tyrrhenischer Abkunft sei und erst nach Pythagoras' Geburt nach Samos gezogen. Dem sei, wie ihm wolle; da er seine Jugend in Samos zubrachte, so ist er dort einheimisch geworden, gehört Samos an.
Als Lehrer des Pythagoras wird Pherekydes, ein Syrer, angeführt, - d. h. nicht aus dem Lande Syrien, sondern aus der Insel Syros, einer der Zykladen. Er soll aus einem Brunnen Wasser geschöpft und daraus erkannt haben, daß ein Erdbeben in drei Tagen stattfinden werde; auch von einem Schiff mit vollen Segeln vorausgesagt, es werde untergehen, und es sei im Augenblicke untergegangen. Von diesem Pherekydes berichtet Theopompos, daß er zuerst den Griechen von der Natur und den Göttern (sic) geschrieben.15) Vorhin wurde von Anaximander dasselbe gesagt; es soll Prosa gewesen sein. Was sonst hiervon berichtet wird, so erhellt, daß es eine Theogonie gewesen, deren erste Worte uns noch aufbewahrt: "Jupiter und die Zeit und die Erde waren eins"; auch hat er den Amor als ersten Beweger dieser Einheit genannt.16) Wie es weitergeht, ist uns unbekannt und ohne großes Interesse - kein großer Verlust. Es werden mancherlei Todesarten angegeben. Einige sagen, er habe sich selbst umgebracht, andere, er sei an der Läusekrankheit gestorben.17)
Pythagoras reiste früh auf das feste Land nach Kleinasien und soll dort Thales kennengelernt haben. Dann reiste er von da nach Phönizien und Ägypten.18) Mit beiden Ländern standen die kleinasiatischen Griechen in vielen Handels- und politischen Verbindungen, und es wird erzählt, daß er von Polykrates dem Könige Amasis empfohlen worden sei. Amasis zog viele Griechen in das Land; er hatte griechische Truppen und Kolonien.19) Die Erzählungen weiterer Reisen ins Innere von Asien zu den persischen Magiern und Indern scheinen ganz fabelhaft zu sein. Das Reisen war Bildungsmittel, wie jetzt. Da er in wissenschaftlicher Absicht reiste, so wird von ihm erzählt, daß er in fast alle Mysterien der Griechen und Barbaren sich habe einweihen lassen, ebenso in den Orden oder Kaste der ägyptischen Priester aufgenommen worden sei.
Diese Mysterien, die wir bei den Griechen antreffen und die für den Sitz großer Weisheit gehalten worden, scheinen in der Religion zur Religion in dem Verhältnis gestanden zu haben wie Lehre und Kultus. Der Kultus bestand allein in Opfern und festlichen Spielen. Zur Vorstellung aber, zu einem Bewußtwerden dieser Vorstellungen sehen wir darin kein Moment; als Tradition in den Gesängen behielten sie sich auf. Aber das Lehren selbst oder das gegenwärtige Zum-Vorstellen-Bringen scheint den Mysterien aufbehalten gewesen zu sein, - so jedoch, daß nicht nur, wie bei unserem Predigen, das Vorstellen, sondern auch der Körper in Anspruch genommen wurde, daß dem Menschen von der Zerstreuung durch die ganze Umgebung sowohl an ihm selbst das Verlassen des sinnlichen Bewußtseins als die Reinigung und Heiligung des Körpers vorgestellt wurde. Von Philosophemen ist aber darin offenbar keine Rede. Wie sie nicht Geheimnis20) , so kennen wir auch die Freimaurer; sie haben nichts Ausgezeichnetes durch Kenntnisse, Wissenschaften - am wenigsten Philosophie.
Den wichtigsten Einfluß auf Pythagoras hatte seine Verbindung mit der ägyptischen Priesterkaste; nicht daß er tiefe spekulative Weisheit darin geschöpft hätte, sondern durch die Idee, die er darin von der Realisierung des sittlichen Bewußtseins faßte, von der Ausführung und Verwirklichung der sittlichen Existenz des Menschen121) , die Sittlichkeit zur Wirklichkeit zu bringen, - ein Plan, den er nachher ausführte und der eine ebenso interessante Erscheinung ist als seine spekulative Philosophie. So wie die Priester eine besondere Art von Stand ausmachten und dazu gebildet waren, so ein eigentümliches zur Regel gemachtes, durch das Ganze gehaltenes sittliches Leben. Aus Ägypten brachte Pythagoras unleugbar das Bild eines Ordens, festes Zusammenleben zur wissenschaftlichen und sittlichen Bildung, die das ganze Leben fortdauerte.
Man sah damals Ägypten als ein hochgebildetes Land an, und es war es gegen Griechenland. Es zeigt sich dies schon in dem Kastenunterschiede; dieser setzt eine Teilung der großen Geschäftszweige unter den Menschen voraus, - eine Teilung des Technischen, Wissenschaftlichen, Religiösen usf. Sonst aber muß man große wissenschaftliche Kenntnisse nicht bei den Ägyptern suchen, noch glauben, daß Pythagoras seine Wissenschaft da hergeholt habe.22)
Pythagoras hielt sich lange Zeit in Ägypten auf; er kehrte von da nach Samos zurück. Er fand in seinem Vaterlande aber die inneren Staatsverhältnisse indessen verwirrt und verließ es bald wieder. Polykrates hatte, nicht als Tyrann23) , viele Bürger aus Samos verbannt, welche bei den Lakedämoniern Unterstützung gesucht und gefunden und einen Bürgerkrieg entzündet hatten.24) Früher gaben die Spartaner diese Hilfe, denn diesen verdankte man überhaupt die Aufhebung der Herrschaft Einzelner und die Zurückgabe der öffentlichen Gewalt an das Volk. Später taten sie das Gegenteil, hoben Demokratien auf und führten Aristokratien ein. Pythagoras' Familie war notwendig auch in diese unangenehmen Verhältnisse verwickelt; und ein solcher Zustand des bürgerlichen Kriegs war nichts für Pythagoras, der kein Interesse am politischen Leben mehr nahm und in ihm einen ungünstigen Boden für seine Pläne sah. Er bereiste Griechenland und begab sich von da nach Italien, in dessen unterem Teile griechische Kolonien aus verschiedenen Völkerschaften und verschiedenen Veranlassungen sich angesiedelt hatten und als eine Menge handeltreibender, mächtiger, an Volk und vielfachem Besitz reicher Städte blühten.
In Kroton hat er sich niedergelassen und ist selbständig und für sich aufgetreten; sein Auftreten ist weder als eines Staatsmanns oder Kriegers noch eines politischen Gesetzgebers des Volks über seine äußeren Verhältnisse, sondern als öffentlicher Volkslehrer mit der Bestimmung als Lehrer, dessen Lehre sich nicht nur mit der Überzeugung begnügt, sondern auch das ganze sittliche Leben der Individuen einrichtet. Er kann als der erste Volkslehrer angesehen werden. Man sagt, er habe sich zuerst den Namen ιλόσοος statt σοός gegeben25) , und man nennt dies Bescheidenheit, als ob er damit nur ausgesprochen, nicht die Weisheit zu besitzen, sondern nur nach ihr zu streben als nach einem Ziele, was unerreichbar ist.26) Σοός hieß aber zugleich ein weiser Mann, der auch praktisch ist, nicht nur für sich, - dazu braucht es keiner Weisheit, jeder redliche, sittliche Mann tut, was seinen Verhältnissen gemäß ist; so hat ιλόσοος besonders den Gegensatz von der Teilnahme am Praktischen, d. h. an öffentlichen Staatsangelegenheiten, - es ist nicht Liebe zur Weisheit als zu etwas, das man sich begäbe zu besitzen, es ist keine unerfüllte Lust dazu. Φ ι λ ό σοος heißt: der ein Verhältnis zur Weisheit als Gegenstand hat; das Verhältnis ist Nachdenken, nicht nur Sein, - auch in Gedanken sich damit beschäftigen. Einer, der den Wein liebt (ίλοινος), ist von einem, der des Weins voll ist, einem Betrunkenen, zu unterscheiden. Bezeichnet denn aber ίλοινος nur ein eitles Streben nach Wein?
Was Pythagoras in Italien veranstaltet und bewirkt hat, wird uns besonders durch spätere Lobredner mehr als durch Geschichtsschreiber berichtet. Es findet sich so eine Geschichte des Pythagoras von Malchos, wo sonderbare Dinge erzählt werden. Auffallend ist dieser Kontrast der Neuplatoniker zwischen ihrer tiefen Einsicht und dem Wunderglauben, der bei ihnen vorkommt.
Wenn die späteren Biographen des Pythagoras vorher schon eine Menge Wunderdinge erzählen, so häufen sie nun noch mehrere bei seiner Erscheinung in Italien auf ihn. Es scheint, daß sie, wie nachher den Apollonios von Tyane, ihn Christus entgegenzusetzen bemüht waren. Die Wunder, welche sie von ihm erzählen, sind zum Teil in demselben Geschmack wie die neutestamentarischen und scheinen sich darauf als eine Verbesserung zu beziehen; und sie sind zum Teil sehr abgeschmackt. So z. B. lassen sie ihn gleich mit einem Wunder in Italien auftreten. Der Stil dieser Wunder ist: Als er bei Kroton am tarentinischen Meerbusen ans Land gestiegen, habe er auf dem Wege nach der Stadt Fischer angetroffen, die nichts gefangen. Er habe sie geheißen, ihr Netz von neuem zu ziehen, und habe ihnen vorausgesagt, welche Anzahl von Fischen darin sein würde. Die Fischer, in Verwunderung über diese Voraussagung, hätten ihm dagegen versprochen, wenn sie eintreffen würde, ihm zu tun, was er nur immer verlange. Es sei eingetroffen, und Pythagoras habe dann dies verlangt, daß sie sie wieder lebend ins Meer würfen; denn die Pythagoreer aßen kein Fleisch. Und als Wunder, das dabei stattgefunden, wird noch dies erzählt, daß keiner der Fische, während sie außer dem Wasser waren, krepiert sei beim Zählen.27)
Von dieser albernen Art sind die Geschichten, mit denen seine Lebensbeschreiber sein Leben anfüllen. Sie lassen ihn alsdann einen solchen allgemeinen Eindruck auf die Gemüter der Italier machen, daß alle Städte ihre schwelgenden und verdorbenen Sitten besserten und die Tyrannen teils ihre Gewalt selbst niederlegten, teils vertrieben wurden.28) Sie begehen dabei aber wieder solche historische Unrichtigkeiten, daß sie z. B. den Charondas und Zaleukos zu seinen Schülern machten, welche lange vor Pythagoras lebten; ebenso die Vertreibung und den Tod des Tyrannen Phalaris ihm und seiner Wirkung zuschreiben29) usw. Abgesondert von diesen Fabeln bleibt als historische Wahrheit die große Wirkung, die er überhaupt hervorgebracht, die Stiftung einer Schule oder vielmehr einer Art von Orden, und der mächtige Einfluß desselben auf die meisten italisch-griechischen Staaten oder vielmehr die Beherrschung derselben durch diesen Orden, die sich sehr lange Zeit erhalten hat.
Es wird von ihm erzählt, daß er ein sehr schöner Mann und von majestätischem Ansehen gewesen, das sogleich ebensosehr einnahm, als Ehrfurcht gebot.30) Mit dieser natürlichen Würde, edlen Sitten und dem besonnenen Anstande der Haltung verband er noch äußerliche Besonderheiten, wodurch er als ein eigenes geheimnisvolles Wesen erschien: der Tracht - er trug eine weiße leinene Kleidung, und enthielt sich von dem Genusse gewisser Speisen. Zu dieser äußeren Persönlichkeit31) kam noch große Beredsamkeit und tiefe Einsichten, die er nicht nur seinen einzelnen Freunden mitzuteilen anfing, sondern er ging darauf aus, eine allgemeine Wirkung auf die öffentliche Bildung hervorzubringen, sowohl in Ansehung der Einsichten als der ganzen Lebensweise und Sittlichkeit. Er unterrichtete seine Freunde nicht bloß, sondern vereinigte sie zu einem besonderen Leben, um sie zu besonderen Personen, zu Geschicklichkeit in Geschäften und zur Sittlichkeit zu bilden. Das Institut des Pythagoras erwuchs zu einem Bunde, der das ganze Leben umfaßte. Pythagoras selbst war ein ausgearbeitetes Kunstwerk, eine würdige plastische Natur.
Über die Einrichtungen seiner Gesellschaft haben wir Beschreibungen von Späteren, besonders den Neuplatonikern; sie sind weitläufig in Beschreibung der Gesetze. Die Gesellschaft hatte im ganzen den Charakter eines Priester- oder Mönchsordens neuerer Zeit. Der, welcher aufgenommen sein wollte, wurde geprüft in Ansehung seiner Bildung und durch Übungen seines Gehorsams. Es wurden Erkundigungen über sein Betragen, seine Neigungen und Geschäfte eingezogen. In der Verbindung war ein ganz regelmäßiges Leben eingeführt, so daß Kleidung, Nahrung, Beschäftigung, Schlafen, Aufstehen usf. bestimmt war, jede Stunde hatte ihre Arbeit. Die Glieder wurden einer besonderen Erziehung unterworfen. Es wurde dabei ein Unterschied zwischen den Aufgenommenen gemacht. Sie teilten sich in Exoteriker und Esoteriker. Diese waren in das Höchste der Wissenschaft eingeweiht, und so wie politische Pläne dem Orden nicht entfernt waren, so waren sie auch in politischer Tätigkeit. Jene hatten ein Noviziat von 5 Jahren. Sein Vermögen mußte jeder dem Orden übergeben, erhielt es jedoch beim Rücktritt wieder. In dieser Lernzeit wurde Stillschweigen auferlegt (εχεμυία, die Pflicht, das Geschwätz zurückzuhalten)32) .
Dies, kann man überhaupt sagen, ist eine wesentliche Bedingung für jede Bildung. Man muß damit anfangen, Gedanken anderer auffassen zu können; es ist das Verzichtleisten auf eigene Vorstellungen, und dies ist überhaupt die Bedingung zum Lernen, Studieren. Man pflegt zu sagen, daß der Verstand ausgebildet werde durch Fragen, Einwendungen und Antworten usf.; es wird aber hierdurch in der Tat nicht der Verstand gebildet, sondern äußerlich gemacht. Die Innerlichkeit des Menschen wird in der Bildung erweitert, erworben; dadurch, daß er an sich hält, durch das Schweigen wird er nicht ärmer an Gedanken, an Lebhaftigkeit des Geistes. Er erlernt vielmehr dadurch die Fähigkeit, aufzufassen, und erwirbt die Einsicht, daß seine Einfälle, Einwendungen nichts taugen; - dadurch daß die Einsicht wächst, daß solche Einfälle nichts taugen, gewöhnt er sich ab, sie zu haben.
Daß nun von Pythagoras besonders berichtet wird diese Abscheidung der in der Vorbereitung Begriffenen und der Eingeweihten, sowie dies Schweigen, scheint allerdings darauf hinzudeuten, daß in seiner Gesellschaft beides förmlicher gewesen, nicht so wie die unmittelbare Natur der Sache es nur mit sich bringt und im einzelnen von selbst ergibt, ohne ein besonderes Gesetz und ein allgemeines Daraufhalten. Allein auch hierüber ist wichtig zu bemerken, daß Pythagoras der erste Lehrer in Griechenland gewesen - oder der erste, der das Lehren von Wissenschaften in Griechenland eingeführt hat. Weder Thales, der früher ist als er, noch sein Zeitgenosse Anaximander haben wissenschaftlich gelehrt, ihre Ideen Freunden mitgeteilt.
Es waren überhaupt keine Wissenschaften vorhanden, weder eine Philosophie, noch Mathematik, noch Jurisprudenz, noch sonst irgendeine; was davon da war, - einzelne Sätze, einzelne Kenntnisse. Was gelehrt wurde, - die Waffen zu führen, Philosopheme, Musik, Homers oder Hesiods Lieder zu singen, Gesänge vom Dreifuß usf. oder andere Künste; dies wird auf ganz andere Weise beigebracht. Pythagoras ist als der erste allgemeine Lehrer anzusehen. Wenn nun erzählt würde, Pythagoras hat das Lehren der Wissenschaften eingeführt unter einem wissenschaftlich ungebildeten, aber sonst nicht stumpfen, sondern vielmehr höchst munteren, natürlich gebildeten und geschwätzigen Volke, wie die Griechen waren, so würden, insofern die äußerlichen Umstände dieses Lehrens angegeben werden sollten, die nicht fehlen: α) daß er unter denen, die noch gar nicht wußten, wie es beim Lehren einer Wissenschaft zugeht, den Unterschied mache, daß die erst anfangen, von dem ausgeschlossen wären, was denen, die schon weiter sind, noch mitgeteilt würde, und β) daß sie die unwissenschaftliche Art, über solche Gegenstände zu sprechen (ihr Geschwätze), sein lassen und die Wissenschaft erst aufnehmen müßten.
Daß aber darum teils die Sache förmlicher erschien, teils förmlicher gemacht werden mußte, ist ebenso wegen des Ungewohnten notwendig; schon dadurch, weil des Pythagoras Zuhörer nicht nur eine große Menge waren, sondern sie auch überhaupt zusammenlebten, - eine Menge hierüber macht eine bestimmte Form und Ordnung notwendig.
Dies Zusammenleben hatte nun nicht nur die Seite des Unterrichts, sondern der Bildung des praktischen Menschen; was nun hier nicht unmittelbar als Geschicklichkeit erscheint, als Übung für eine Fertigkeit, die im unfreien, gegenständlichen Elemente des Menschen ihren Teil hat. Sondern das Sittliche, das Tätige erscheint hier, und es ist alles förmlich, was sich darauf bezieht, oder vielmehr, insofern es mit Bewußtsein in dieser Beziehung gedacht wird; denn förmlich ist etwas Allgemeines, das oberflächlich oder entgegengesetzt für das Individuum ist. Aber so erscheint es auch dem das Allgemeine und Einzelne Vergleichenden und mit Bewußtsein über beides Reflektierenden; aber dieser Unterschied verschwindet für den darin Lebenden, welchem es Sitte ist.
Man hat endlich genaue und ausführliche Beschreibungen von der äußerlichen Lebensart, welche die Pythagoreer in ihrem Zusammenleben beobachteten, ihren Übungen usf.; vieles hiervon aber verdankt man den Vorstellungen Späterer. Zuerst wird uns dies berichtet, daß sie sich durch gleiche Kleidung - eine weißleinene, die des Pythagoras - auszeichneten. Sie hatten eine sehr bestimmte Tagesordnung. Des Morgens gleich nach dem Aufstehen war ihnen auferlegt, die Geschichte des vorhergehenden Tages sich ins Gedächtnis zu rufen, indem, was in dem Tage zu tun ist, mit dem des gestrigen eng zusammenhängt. Wahre Bildung ist nicht, auf sich sosehr seine Aufmerksamkeit richten, sich mit sich als Individuum beschäftigen - Eitelkeit; sondern sich vergessen, in die Sache, das Allgemeine vertiefen - Selbstvergessenheit. Auch hatten sie aus Homer und Hesiod auswendig zu lernen. Des Morgens, sowie häufig den Tag über, beschäftigten sie sich mit Musik, einem der Hauptgegenstände des griechischen Unterrichts und Bildung überhaupt. Ebenso waren die gymnastischen Übungen im Ringen, Laufen, Werfen und dergleichen regelmäßig bei ihnen eingeführt. Sie speisten gemeinschaftlich, und auch hier hatten sie Besonderheiten; doch sind auch hierüber die Nachrichten verschieden. Honig und Brot werden als ihre Hauptspeisen angegeben und Wasser als das vorzüglichste, ja einzige Getränk. Ebenso sollen sie sich der Fleischspeisen gänzlich enthalten haben, womit die Seelenwanderung zusammengehängt wird, - auch unter den vegetabilischen Nahrungsmitteln einen Unterschied gemacht, Bohnen verboten. Sie sind viel damit verspottet worden, wegen ihrer Verehrung der Bohnen; bei der folgenden Zerstörung des politischen Bundes hätten mehrere Pythagoreer, verfolgt, sich lieber töten lassen, um einen Bohnenacker nicht zu verletzen.33)
Zwei Umstände: α) die zur Pflicht gemachte häufige Reflexion über sich selbst (schon erwähnt als Morgengeschäft, ebenso als Abendgeschäft: was den Tag über getan, zu prüfen, ob es recht oder nicht recht) - gefährliche, unnütze Ängstlichkeit (Besonnenheit ist notwendig mehr über die Sache selbst) benimmt die Freiheit, so wie eben alles, was sich aufs Moralische bezieht, förmlich wird; β) vielfältige Zusammenkunft in den Tempeln, Opfer, eine Menge religiöser Gebräuche, - ein gesetztes religiöses Leben führen. Von der ganzen praktischen Seite nachher.
Der Orden, die eigentliche sittliche Bildung selbst, der Umgang der Männer, bestand jedoch nicht lange. Noch zu Pythagoras' Lebzeiten soll sich das Schicksal seines Bundes entwickelt haben; er hat Feinde gefunden, welche ihn gewaltsam zertrümmerten. Er habe, sagt man, den Neid auf sich gezogen. Er wurde beschuldigt, daß er noch anderes dabei denke, als er meine (arrière-pensée); das Wesen dieses Zusammenhangs ist, daß er der Stadt nicht ganz, noch einem anderen angehört. In dieser Katastrophe soll Pythagoras selbst in der 69. Olympiade (504 v. Chr.)34) den Tod in einem Aufstande des Volkes gegen diese Aristokraten gefunden haben. Sein Tod ist ungewiß, entweder in Kroton oder Metapont, oder in einem Kriege der Syrakusaner mit den Agrigentinern, - die Bohnen haben ihm den Tod gegeben.35) Übrigens hat der Verein der pythagoreischen Schule und die Freundschaft der Mitglieder sich noch später erhalten, aber nicht in der Förmlichkeit eines Bundes. Die Geschichte Großgriechenlands ist uns überhaupt weniger bekannt; doch treffen wir noch zu Platons Zeiten Pythagoreer an der Spitze von Staaten oder als eine politische Macht auftreten.36)
Die pythagoreische Gesellschaft - freiwilliger Priesterorden, Lehr-, Bildungsanstalt nicht nur, sondern auch fortdauerndes Zusammenleben -, diese Ausscheidung hatte keinen Zusammenhang mit dem griechischen politischen öffentlichen und religiösen Leben, konnte nicht von langem Bestande sein im griechischen Leben. In Ägypten, Asien ist Absonderung, Einfluß der Priester zu Hause; das freie Griechenland konnte aber diese orientalische Kastenabsonderung nicht gewähren lassen. Freiheit ist hier das Prinzip des Staatslebens, jedoch so, daß sie nicht bestimmt ist als Prinzip der rechtlichen, der Privatverhältnisse. Bei uns ist das Individuum frei, weil es vor dem Gesetze gleich ist; dabei kann die Sitte, das politische Verhältnis, die Ansicht bestehen und muß in organischen Staaten sogar verschieden sein. In dem demokratischen Griechenland hingegen mußte auch die Sitte, die äußere Lebensweise sich in einer Gleichheit erhalten. Der Stempel der Gleichheit mußte auf diese weiteren Kreise aufgedrückt bleiben. Diese Ausnahme der Pythagoreer, die nicht als freie Bürger beschließen konnten, sondern von den Plänen, Zwecken einer Verbindung abhängig waren, hatte so in Griechenland keinen Platz. Der Zusammenhang der Bildung ist zwar geblieben bis in spätere Zeiten, aber das Äußere mußte untergehen.
Zwar den Eumolpiden gehörte die Bewahrung der Mysterien, besonderer Gottesdienst natürlichen Familien an, aber nicht als einer im politischen Sinne festgesetzten Kaste, sondern sie sind politische Männer, Bürger, wie andere; ebenso die Priester und Priesterinnen, überhaupt die den Opferdienst zu versehen hatten, sonstige Vorsteher, Fürsten, Heroen. Noch war, wie bei den Christen, diese Ausscheidung des Religiösen, Absonderung zu dieser Extremität getrieben. Ohne pythagoreische Bildung waren die Griechen nicht einseitig, - politische Männer. Sie hatten gemeinsames Staatsleben. Da können keine aufkommen oder es aushalten, die besondere Prinzipien, sogar Geheimnisse, in äußerlicher Lebensart und Kleidung Unterschiede haben, sondern es ist eine offene Vereinigung und Auszeichnung, die im Gemeinsamen der Prinzipien, Lebensweise steht. Ob etwas gut fürs Gemeinwohl oder gegen das Gemeinwohl, wurde gemeinsam offen mit ihnen beraten. Die Griechen sind darüber hinaus: besondere Kleidung, beständige Gewohnheiten des Waschens, Aufstehens, Übung in Musik, Ausscheidung reiner und unreiner Speisen. Bei Pythagoras war so eine besondere Form natürlich, weil das allererste Mal ein Lehrer in Griechenland eine Totalität beabsichtigte, ein Umfassen des ganzen Menschen und Lebens, neues Prinzip durch Bildung der Intelligenz und des Gemüts, Willens. Dies ist aber teils Sache des besonderen Individuums, seiner einzelnen Freiheit, ohne gemeinsamen Zweck, teils als allgemeine Möglichkeit für jeden und allgemeine Sitte.
Das Alter des Pythagoras wird auf 80 und 104 Jahre angegeben37) ; es ist darüber viel Streit.
Die Hauptsache ist für uns die pythagoreische Philosophie, nicht sowohl des Pythagoras als der Pythagoreer. So spricht Aristoteles und Sextus; und aus der Vergleichung dessen, was für pythagoreische Lehre ausgegeben wird, erhellen sogleich mancherlei Abweichungen und Verschiedenheiten, wie wir sehen werden. Es wird Schuld des Verderbens durch Platon, Aufnehmen von Pythagoreischem in seine Philosophie behauptet; aber die Macht der pythagoreischen Philosophie ist weitere Fortbildung, - es läßt sich nicht so erhalten, wie es zuerst war.
Hierbei ist zunächst zu bemerken, daß allerdings zu unterscheiden ist im allgemeinen die Philosophie des Pythagoras selbst und die Ausbildung und Entwicklung, die sie weiterhin bei seinen Nachfolgern erlangt hat. Dies ist zum Teil historisch. Viele seiner Nachfolger werden genannt, die diese und jene Bestimmung gemacht haben: Alkmäon, Philolaos. Und vielen anderen Darstellungen sieht man das Einfache, Unausgebildete an gegen die weitere Ausbildung, worin der Gedanke mächtig und bestimmter hervortritt. Auf das Geschichtliche dieses Unterschiedes brauchen wir jedoch nicht weiter einzugehen, sondern wir können nur die pythagoreische Philosophie überhaupt betrachten. Ebenso ist das abzuschneiden, was offenbar den Neuplatonikern und Neupythagoreern gehört; wir haben hierzu Quellen, die früher sind als diese Periode, - die ausführlichen Darstellungen, die wir bei Aristoteles und Sextus finden.
Die pythagoreische Philosophie macht den Übergang von der realistischen zur Intellektualphilosophie. Die Ionier sagten, das Wesen, das Prinzip ist ein materiell Bestimmtes. Die nächste Bestimmung ist,
α) daß das Absolute nicht in natürlicher Form gefaßt werde, sondern in einer Gedankenbestimmung; β) dann müssen jetzt die Bestimmungen gesetzt werden, - das Erste ist das ganz Unbestimmte (απειον). Dieses beides hat die pythagoreische Philosophie getan.
12) M: Tennemann, Bd. I, S. 413-414
13) M: vgl. Malchos, De vita Pythagorae, § 14-15, ed. Rittershus
14) M: Herodot III, 39
15) M: Diogenes Laertios I, § 116
16) M: Diogenes Laertios I, § 119
17) M: Diogenes Laertios I, § 118
18) M: Iamblichos, De vita Pythagorae III, § 13-14
19) M: Herodot II, 154
20) *Es sollte nur als von etwas Heiligem nicht gesprochen werden. Herodot sagt oft ausdrücklich, er wolle von den ägyptischen Gottheiten und Mysterien sprechen, so weit es heilig sei, davon zu sprechen, er wisse noch mehreres, aber es sei nicht heilig, davon zu sprechen.
21) *Das Individuum sollte auf sich besonders sehen, daß es innerlich und äußerlich ein würdiger Mensch sei, - sittliches Kunstwerk.
22) M: vgl. Aristoteles, Metaphysik I, 1; Malchos, § 6; Iamblichos XXIX, § 158
23) M: Diogenes Laertios VIII, § 3
24) M: Herodot III, 45-47
25) Diogenes Laertios VIII, § 8; Iamblichos VIII, § 4; XII, § 58
26) Diogenes Laertios I, § 12
27) M: Porphyrios, De vita Pythagorae, § 25; Iamblichos VIII, § 36
28) M: Porphyrios, § 21-22; Iamblichos VII, § 33-34
29) M: Iamblichos XXXII, § 220-222
30) M: Diogenes Laertios VIII, § 11; Porphyrios, § 18-20; Iamblichos II, § 9-10
31) *Besondere Persönlichkeit überhaupt sowie Äußerlichkeit in der Tracht und dergleichen sind in neueren Zeiten nicht mehr so wichtig. Man läßt sich durch die allgemeine Gewohnheit (Mode) bestimmen, weil es an und für sich äußerlich, gleichgültig ist, hierin nicht eigenen Willen zu haben, sondern gibt dies Zufällige der Zufälligkeit preis und folgt nur dieser äußeren Erscheinung der Vernünftigkeit als im Äußeren, - Gleichheit, Allgemeinheit.
32) M: Iamblichos XVIII, § 71-74, 80-82, 150; Porphyrios, § 37; Diogenes Laertios VIII, § 10
33) M: Iamblichos XXI, § 97, 100, XXIV, § 107, XXIX, 163-165; Porphyrios, § 32-34; Diogenes Laertios VIII, 19, 22, 24, 39
34) M: Tennemann, Bd. I, S. 414
35) M: Diogenes Laertios VIII, § 39-40; Iamblichos XXXV, § 248-264; Porphyrios, § 54-59
36) M: Platon, Timaios, Steph. 20
37) M: Anonymus, De vita Pythagorae (apud Photium) § 2
(HEGEL: Geschichte der Philosophie)
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