a. Die Geschichte der Philosophie als Vorrat von Meinungen
Geschichte schließt nämlich beim ersten Anschein sogleich dies ein, daß sie zufällige Ereignisse der Zeiten, der Völker und Individuen zu erzählen habe - zufällig teils ihrer Zeitfolge, teils aber ihrem Inhalte nach. Von der Zufälligkeit in Ansehung der Zeitfolge ist nachher zu sprechen. Den Begriff, mit dem wir es zuerst zu tun haben wollen, geht die Zufälligkeit des Inhalts an, zufällige Handlungen. Der Inhalt aber, den die Philosophie hat, sind nicht Handlungen und äußerliche Begebenheiten der Leidenschaften und des Glücks, sondern es sind Gedanken. Zufällige Gedanken aber sind nichts anderes als Meinungen, und philosophische Meinungen heißen Meinungen über den näher bestimmten Inhalt und die eigentümlicheren Gegenstände der Philosophie - über Gott, die Natur, den Geist.
Somit stoßen wir denn sogleich auf die sehr gewöhnliche Ansicht von der Geschichte der Philosophie, daß sie nämlich den Vorrat von philosophischen Meinungen herzuerzählen habe, wie sie sich in der Zeit ergeben und dargestellt haben. Wenn glimpflich gesprochen wird, so heißt man diesen Stoff Meinungen; die es mit gründlicherem Urteile ausdrücken zu können glauben, nennen diese Geschichte eine Galerie der Narrheiten sogar oder wenigstens der Verirrungen des sich ins Denken und in die bloßen Begriffe vertiefenden Menschen. Man kann solche Ansicht nicht nur von solchen hören, die ihre Unwissenheit in Philosophie bekennen (sie bekennen sie, denn diese Unwissenheit soll nach der gemeinen Vorstellung nicht hinderlich sein, ein Urteil darüber zu fällen, was an der Philosophie sei; im Gegenteil hält sich jeder für sicher, über ihren Wert und Wesen doch urteilen zu können, ohne etwas von ihr zu verstehen), - sondern auch von solchen, welche selbst Geschichte der Philosophie schreiben und geschrieben haben. Diese Geschichte, so als eine Hererzählung von vielerlei Meinungen, wird auf diese Weise eine Sache einer müßigen Neugierde oder, wenn man will, ein Interesse der Gelehrsamkeit. Denn die Gelehrsamkeit besteht vorzüglich darin, eine Menge unnützer Sachen zu wissen, d. h. solcher, die sonst keinen Gehalt und kein Interesse in ihnen selbst haben als dies, die Kenntnis derselben zu haben.
Jedoch meint man zugleich, einen Nutzen davon zu haben, auch verschiedene Meinungen und Gedanken anderer kennenzulernen, - es bewege die Denkkraft, führe auch auf manchen guten Gedanken, d. i. es veranlasse etwa auch wieder, eine Meinung zu haben, und die Wissenschaft bestehe darin, daß sich so Meinungen aus Meinungen fortspinnen.
Wenn die Geschichte der Philosophie nur eine Galerie von Meinungen - obzwar über Gott, über das Wesen der natürlichen und geistigen Dinge- aufstellte, so würde sie eine sehr überflüssige und langweilige Wissenschaft sein, man möge auch noch so viele Nutzen, die man von solcher Gedankenbewegung und Gelehrsamkeit ziehen solle, herbeibringen. Was kann unnützer sein, als eine Reihe bloßer Meinungen kennenzulernen, was langweiliger? Schriftstellerische Werke, welche Geschichten der Philosophie in dem Sinne sind, daß sie die Ideen der Philosophie in der Weise von Meinungen aufführen und behandeln, braucht man nur leicht anzusehen, um zu finden, wie dürr, langweilig und ohne Interesse das alles ist.
Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer anders haben kann; - eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke. Die Philosophie aber enthält keine Meinungen; es gibt keine philosophischen Meinungen. Man hört einem Menschen - und wenn es auch selbst ein Geschichtsschreiber der Philosophie wäre - sogleich den Mangel der ersten Bildung an, wenn er von philosophischen Meinungen spricht. Die Philosophie ist objektive Wissenschaft der Wahrheit, Wissenschaft ihrer Notwendigkeit, begreifendes Erkennen, kein Meinen und kein Ausspinnen von Meinungen.
Die weitere eigentliche Bedeutung von solcher Vorstellung ist dann, daß es nur Meinungen sind, von denen wir die Kenntnis erhalten. Auf Meinung ist der Akzent gelegt. Das, was der Meinung gegenübersteht, ist die Wahrheit. Wahrheit ist es, vor der die Meinung erbleicht. Wahrheit aber ist auch das Wort, bei dem die den Kopf abwenden, welche nur Meinungen in der Geschichte der Philosophie suchen oder überhaupt meinen, es seien nur solche in ihr zu finden. Es ist ein Antagonismus von zweierlei Seiten, welchen die Philosophie hier erfährt. Einerseits erklärte die Frömmigkeit bekanntlich die Vernunft oder das Denken für unfähig, das Wahre zu erkennen; im Gegenteil führe die Vernunft nur auf den Abgrund des Zweifels, und auf Vernunft und Selbstdenken müsse Verzicht getan, sie müsse unter den blinden Autoritätsglauben gefangengenommen werden, um zur Wahrheit zu gelangen. Vom Verhältnis der Religion zur Philosophie und ihrer Geschichte nachher. Dagegen ist es andererseits ebenso bekannt, daß die sogenannte Vernunft sich geltend gemacht, den Glauben aus Autorität verworfen, das Christentum vernünftig gemacht hat, so daß die eigene Einsicht, die eigene Überzeugung durchaus nur verpflichtend für mich sei, etwas anzuerkennen. Aber wunderbarerweise ist diese Behauptung des Rechts der Vernunft dahin umgeschlagen, dies zum Resultate zu haben, daß die Vernunft nichts Wahres erkennen könne. Diese sogenannte Vernunft bekämpfte einerseits den religiösen Glauben im Namen und kraft der denkenden Vernunft, - und zugleich ist sie ebenso gegen die Vernunft gekehrt, Feindin der Vernunft, behauptet gegen sie die innere Ahnung, das Gefühl, macht so das Subjektive zum Maßstabe des Geltenden, - eine eigene Überzeugung, wie jeder sie in seiner Subjektivität sich aus und in sich selber mache. Solche eigene Überzeugung ist nichts anderes als die Meinung, welche dadurch zum Letzten für die Menschen geworden ist.
Wenn wir von dem anfangen, worauf wir in der nächsten Vorstellung stoßen, so können wir nicht umhin, dieser Ansicht in der Geschichte der Philosophie sogleich zu erwähnen. Diese Ansicht ist ein Resultat, das in der allgemeinen Bildung durchgedrungen ist, - gleichsam das Vorurteil unserer Zeiten, der Grundsatz, in dem man sich gegenseitig versteht, sich erkennt, eine Voraussetzung, die als ausgemacht gilt und allem übrigen wissenschaftlichen Treiben zugrunde gelegt wird. Es ist dieser Grundsatz ein wahrhaftes Zeichen der Zeit. In der Theologie ist es nicht sosehr das Glaubensbekenntnis der Kirche, welches als Lehre des Christentums gilt, sondern jeder mehr oder weniger macht sich eine eigene christliche Lehre zurecht nach seiner Überzeugung, ein anderer nach anderer Überzeugung. Oder wir sehen oft die Theologie geschichtlich getrieben, der theologischen Wissenschaft das Interesse gegeben, die verschiedenen Meinungen kennenzulernen: und eines der ersten ist, alle Überzeugungen zu ehren und sie für etwas zu nehmen, das jeder nur mit sich auszumachen habe, - das Ziel ist nicht, die Wahrheit zu erkennen.
Eigene Überzeugung ist in der Tat das Letzte, absolut Wesentliche, was die Vernunft, Philosophie zur Erkenntnis fordert nach der Seite der Subjektivität; aber sie macht den Unterschied, ob die Überzeugung auf Gefühlen, Ahnungen, Anschauungen usf., subjektiven Gründen, überhaupt auf der Besonderheit des Subjekts beruht oder auf dem Gedanken und ob sie aus der Einsicht in den Begriff und die Natur der Sache hervorgeht. Auf jene erstere Weise ist die Überzeugung nun die Meinung.
Den Gegensatz zwischen Meinung und Wahrheit, der jetzt prononziert ist, erblicken wir auch schon in der Bildung der sokratisch-platonischen Zeit - einer Zeit des Verderbens des griechischen Lebens: den Platonischen Gegensatz von Meinung (δόξα) und Wissenschaft (εe̓πpισsτtήμη). Es ist derselbe Gegensatz, den wir in der Zeit des Untergangs des römischen öffentlichen und politischen Lebens unter Augustus und in der Folge sehen. Epikureismus, Gleichgültigkeit gegen die Philosophie machte sich breit. In welchem Sinne Pilatus, als Christus sagte: "Ich bin gekommen in die Welt, die Wahrheit zu verkünden", erwiderte: "Was ist Wahrheit?"1) Das ist vornehm gesprochen und heißt so viel: Diese Bestimmung Wahrheit ist ein Abgemachtes, mit dem wir fertig sind. Wir sind weiter, wissen: Wahrheit zu erkennen, davon kann nicht mehr die Rede sein. Wir sind darüber hinaus. - Wer dies aufstellt, ist in der Tat darüber hinaus.
Wenn man bei der Geschichte der Philosophie von diesem Standpunkt ausgeht, so wäre dies ihre ganze Bedeutung, nur Partikularitäten anderer, deren jeder eine andere hat, kennenzulernen, - Eigentümlichkeiten, die mir also ein Fremdes sind und wobei meine denkende Vernunft nicht frei, nicht dabei ist, die mir nur ein äußerer, toter, historischer Stoff sind, eine Masse in sich selbst eitlen Inhalts. Und sich so in Eitlem befriedigen, ist selbst nur subjektive Eitelkeit.
Dem unbefangenen Menschen wird die Wahrheit immer ein großes Wort bleiben und das Herz schlagen lassen. Was nun die Behauptung betrifft, daß man die Wahrheit nicht erkennen könne, so kommt sie in der Geschichte der Philosophie selbst vor, wo wir sie denn auch näher betrachten werden. Hier ist nur zu erwähnen, daß, wenn man diese Voraussetzung gelten läßt wie z. B. Tennemann2) , es nicht zu begreifen ist, warum man sich um die Philosophie noch bekümmert. Denn jede Meinung behauptet dann fälschlich, die Wahrheit zu haben. Ich appelliere hierbei vorläufig an das alte Vorurteil, daß im Wissen Wahrheit sei, daß man aber vom Wahren nur insofern wisse, als man nachdenke nicht so, wie man gehe und stehe; daß die Wahrheit nicht erkannt werde im unmittelbaren Wahrnehmen, Anschauen, weder in der äußerlich sinnlichen noch in der intellektuellen Anschauung (denn jede Anschauung ist als Anschauung sinnlich), sondern nur durch die Mühe des Denkens.
1) Joh. 18, 37-38
2) Wilhelm Gottlieb Tennemann, 1761-1819, Kantianer
Erweis der Nichtigkeit der philosophischen Erkenntnis durch die Geschichte der Philosophie selbst >>>
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Verhältnis der Philosophie zur Religion
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