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Sokrates 2. Prinzip des Guten [1/2/3]
c) Wenn wir näher dies betrachten, was denn das Wahre ist in diesem Bewußtsein, so machen wir den Übergang zu der Weise, wie dem Sokrates selbst das Realisierende des Allgemeinen erschien.
Es ist zu bemerken, daß der ungebildete Geist dem Inhalte seines Bewußtseins nicht so folgt, wie er ihm in seinem Bewußtsein erscheint, sondern daß er ihm, als Geist, zugleich ein aufgehobener ist, - oder er, als Geist, das selbst korrigiert, was unrichtig in seinem Bewußtsein ist; an sich, aber nicht für sich, ist er als Bewußtsein frei. Z. B. im Bewußtsein gilt dies Gebot als Pflicht: "Du sollst nicht töten"; es ist allgemeines Gesetz; wenn es gefragt wird, spricht es dies als Gebot aus. Allein dasselbe Bewußtsein - wenn nämlich kein feiger Geist in ihm wohnt - wird im Kriege tapfer auf die Feinde losschlagen und sie totschlagen; hier, wenn es gefragt, ob es Gebot ist, seine Feinde zu töten, wird es dies bejahen. (Der Scharfrichter tötet auch.) Allein, wenn es in Privathändel mit Widersachern und Feindschaften verwickelt ist, so wird ihm dies Gebot, seine Feinde zu töten, nicht einfallen. Wir können eben dies also den Geist nennen, der ihm zur rechten Zeit das eine und zur rechten Zeit das Entgegengesetzte einfallen läßt; es ist Geist, aber ein ungeistiges Bewußtsein. Der erste Schritt, ein geistiges Bewußtsein zu werden, ist die negative Seite der Erwerbung der Freiheit seines Bewußtseins; diese ist so leer (diese Wirkung bringt die Sokratische Dialektik hervor), aber dies, was dem Bewußtsein einfällt, die Weise, wie sie als allgemein gedacht wird, ihre Erfüllung sehen wir, bei Aristophanes, durch sein Privatinteresse; oder an ihr als diesem Geist, der seiner Form zuerst allgemein bewußt wird, sehen wir einen schlechten Geist, des Strepsiades und seines Sohns, der nur das negative Bewußtsein des Inhalts der Gesetze ist. Für ein konsequent gewordenes Bewußtsein ist dies Gesetz des einzelnen Falles ein aufgehobenes; es bringt dasselbe mit seinem Gegenteil zusammen, und es hat ihm keine Wahrheit an sich; es erhebt sich über die Weise, wie sie ihm in diesem Falle erschien, und zugleich hat es noch nicht die positive Wahrheit, welche in ihrer Bestimmtheit erkannt wäre.
Dieser Mangel kann auf doppelte Weise aufgefaßt werden: α) diese Freiheit ist, als ein Sein, das allgemeine an sich Seiende, - so vermißt Aristoteles die Betätigung, das reale Moment daran, bestimmende Freiheit; β) oder - da sie, als reine Bewegung, Freiheit bleibt - den Inhalt. α) Bei Sokrates nun sehen wir in Ansehung der Erfüllung dieses Inhalts (des Positiven) eben wieder das Vorige, den Gesetzen zu gehorchen, an die Stelle treten - d. h. eben die Weise des inkonsequenten Denkens und Vorstellens -, auch die Einsicht in die Wahrheit einzelner Gesetze, allein eine Einsicht, welche so beschaffen ist wie die Beweise unserer Moral. Sie gehen von einer Bestimmung aus, worunter als dem Grunde und Allgemeinen das bestimmte Gesetz oder die Pflicht subsumiert wird; allein dieser Grund ist selbst nichts Absolutes und fällt unter dieselbe Dialektik. Z. B. Mäßigkeit als eine Pflicht aus dem Grunde geboten, weil Unmäßigkeit die Gesundheit untergrabe: hier ist Gesundheit das Letzte, das hier als absolut gilt. Allein diese ist ebenso nichts Absolutes; es gibt andere Pflichten, die gebieten, die Gesundheit, ja das Leben selbst in Gefahr zu bringen und aufzuopfern. Die sogenannten Kollisionen sind nichts anderes als eben dies, daß die Pflicht, die als absolut ausgesprochen wird, sich zeigt als nicht absolut; in diesem beständigen Widerspruche treibt sich die Moral herum. Eben dieser Widerspruch bei Sokrates' Begriffen zeigt das rein Allgemeine als das Wesen auf, worin alle Bestimmung, die sonst dem Bewußtsein als an sich seiend gilt, sich auflöst, - und auf der andern Seite, indem dies Allgemeine einen Inhalt erhalten soll, dasselbe an die Stelle treten. Das Wahre ist hieran die reine Einsicht, - diese Bewegung des Bewußtseins und das Allgemeine. β) Dieser Mangel des Inhalts, der Erfüllung ist Wiederherstellung eines Inhalts, nicht der Willkür, sondern als eingesehene Gesetze, die sich dem Bewußtsein gerechtfertigt. Bei Sokrates sehen wir diese Begeistung des Inhalts eintreten, - ein Wissen, Erkennen desselben, Aufzeigen seines Grundes, der das Allgemeine ist; aber nur formell als Grund, ohne eben aus diesem Allgemeinen, das nicht das absolut reale Allgemeine, welches die Entgegengesetzten enthielte, - formale Einsicht, noch nicht das Wesen. Es bleiben vielerlei selbständige Gründe, wie vorhin vielerlei Gesetze; die Einsicht ist noch nicht ausgesprochen als das reale Moment, das Unbezogene, was sie unterjocht, ihr Wesen ist. Es kommt uns dasselbe als eine Menge Gründe vor, nicht ihre Einheit; oder wir können die Gründe als viele Gesetze, Pflichten betrachten, die die bestehenden Gesetze für das Bewußtsein darstellen. Der wahre Grund ist der Geist, und zwar der Geist eines Volkes; eine Einsicht in die Konstitution eines Volkes und Einsicht in den Zusammenhang des Individuums mit diesem realen allgemeinen Geiste.
Die Beschränkung des Allgemeinen, die so eintritt, zu erkennen, so daß sie fest ist, nicht zufällig wird, d. h. das Allgemeine in seiner Bestimmtheit zu erkennen, ist nur möglich im ganzen Zusammenhang eines Systems der Wirklichkeit. Im gemeinen Leben macht sich die Beschränkung auf bewußtlose Weise (im athenischen Leben waren es teils die Sitten, welche diese Beschränkung machten), der Grundsatz bleibt dabei fest; haben wir die Ausnahme, so sagen wir: So ist es mit dieser Allgemeinheit nicht gemeint, daß die Beschränkung wegfallen soll. Diese Beschränkung der Grundsätze, die bestimmt ist durch Gesetz in uns, oder Staatsgesetze, Zustand des Lebens überhaupt, vergessen wir; das Feste hat uns sogleich die Gestalt der Allgemeinheit. Das Andere ist, daß die Beschränkung vors Bewußtsein tritt; wird gesagt, der Grundsatz ist nicht allgemein, ohne daß die Beschränkung in ihrer Bestimmtheit erkannt wird, so ist der Grundsatz nur überhaupt wankend gemacht. Die Gesetze, die Sitten, die Regierung, das Regieren, das wirkliche Staatsleben hat in sich sein Korrektiv gegen das Inkonsequente, was darin liegt, solchen bestimmten Inhalt als absolut geltend auszusprechen.
Es stehen sich zwei Seiten entgegen: die eine ist das Allgemeine als solches, Gesetze, Pflichten überhaupt; das andere der Geist überhaupt, in seiner Abstraktion das betätigende Individuum, das Entscheidende, Subjektive. Diese beiden Seiten sind notwendig auch im Bewußtsein des Sokrates: Inhalt und Herrschaft über diesen Inhalt. Allgemein ist der Mangel des Negativen an diesem Allgemeinen selbst, als Entwicklung. Dies Negative, als Reales gegen das Allgemeine, ist das Moment der Individualität als solcher, das Tätige, das Bestimmung hereinbringt, das, was sich entschließt. Wenn wir das vollkommene Bewußtsein haben, daß im wirklichen Handeln die bestimmten Pflichten und das Verhalten danach nicht ausreicht, sondern jeder konkrete Fall eigentlich eine Kollision von Pflichten, eine Konkretion vielfacher Bestimmungen ist, welche sich im moralischen Verstande unterscheiden, die aber der Geist als nicht absolut behandelt, sondern sie in der Einheit seiner Entschließung verbindet, so nennen wir diese reine entschließende Individualität, das Wissen, was das Rechte ist, das Gewissen, - wie das rein Allgemeine des Bewußtseins, nicht ein besonderes, sondern eines jeden, die Pflicht. Oben ist es, als der Geist des Volks, die Sitte genannt worden. An die Stelle dieses allgemeinen einigen Geistes tritt der einzelne Geist, die sich entscheidende Individualität. Indem nun so das Besondere, das Gesetzliche dem Bewußtsein wankend gemacht wird, so ist das Subjekt das Bestimmende, Entscheidende. Ob guter oder schlechter Geist entscheide, bestimmt jetzt das Subjekt. Der Punkt der Entscheidung aus sich selbst fing an, bei Sokrates aufzugehen; dieses war bei den Griechen bewußtloses Bestimmen. Bei Sokrates wird dieser entscheidende Geist in das subjektive Bewußtsein des Menschen verlegt, und die Frage ist nun zunächst, wie diese Subjektivität an Sokrates selbst erscheint. Indem die Person, das Individuum zum Entscheidenden wird, so kommen wir auf diese Weise auf Sokrates als Person, als Subjekt zurück; und das Folgende ist nun eine Entwicklung seiner persönlichen Verhältnisse.
Was die Persönlichkeit des Sokrates überhaupt betrifft, so ist von dieser am Anfang schon die Rede gewesen; er selbst war ein durchaus edler, ein plastisch gebildeter Mann, - und darüber ist nichts mehr hinzuzusetzen. Es kann noch bemerkt werden, daß "der Umgang mit seinen Freunden für sie im ganzen sehr wohltuend, lehrreich gewesen ist"7) ; aber indem das Sittliche auf die Subjektivität gestellt ist, so tritt denn hier die Zufälligkeit des Charakters ein. Die Erziehung der Staatsbürger, das Leben im Volk ist eine ganz andere Macht im Individuum, als daß dasselbe sich so durch Gründe bilden sollte. So wahrhaft bildend der Umgang des Sokrates gewesen ist, so tritt dennoch diese Zufälligkeit ein. Wir sehen so die mit dem genialischsten Naturell, z. B. Alkibiades, Kritias, nachher diese Rolle spielen, daß sie in ihrem Vaterlande als Feinde, als Verräter ihrer Mitbürger, als Verderber, ja als Unterdrücker, Tyrannen des Staats beurteilt werden, - unglückliche Zeichen der Verwirrung.
Die eigentümliche Gestalt, in der diese Subjektivität, dies in sich Gewisse, was das Entscheidende ist, - wie dies bei Sokrates erscheint, ist noch zu erwähnen. Es hat jeder hier einen eigenen solchen eigenen Geist; oder er für sich erscheint ihm als sein Geist. So sehen wir, wie damit zusammenhängt was unter dem Namen des Genius (δdαιμόνιον) des Sokrates bekannt ist; er enthält das, daß jetzt der Mensch nach seiner Einsicht aus sich entscheidet. Aber es darf uns bei diesem berühmten Genius des Sokrates, als einer so viel beschwatzten Bizarrerie seines Vorstellens, weder die Vorstellung von Schutzgeist, Engel und dergleichen einfallen, noch auch das Gewissen. Denn Gewissen ist die Vorstellung allgemeiner Individualität, des seiner selbst gewissen Geistes, der zugleich allgemeine Wahrheit ist. Der Dämon des Sokrates ist die ganz notwendige andere Seite zu seiner Allgemeinheit; wie ihm diese zum Bewußtsein kam, so auch die andere Seite, die Einzelheit des Geistes. Sein reines Bewußtsein stand über beiden Seiten. Welcher Mangel in dieser Seite, werden wir sogleich bestimmen: nämlich der Mangel des Allgemeinen ist ersetzt selbst mangelhaft, auf eine einzelne Weise, nicht Wiederherstellung des Verdorbenen für das Negative. Sein Entschließen im Einzelnen, im Tun und Lassen war Gegenstand für ihn; er hatte ein Bewußtsein über dies individuelle Tun. Es ist darin weiter keine Phantasterei, kein Aberglaube, oder wie man es nennen will, zu sehen; sondern es ist eine notwendige Betrachtungsweise, nur daß Sokrates diese Notwendigkeit nicht erkannte, sondern dies Moment nur überhaupt vor seiner Vorstellung war. Es erscheint darum als eine Eigenheit, welche nur einem Einzelnen zukam; dadurch erhält er den Schein der Einbildung, erscheint ihm nicht, wie er in Wahrheit.
Das Innere des Subjekts weiß, entscheidet aus sich; dies Innere hat bei Sokrates noch eine eigentümliche Form gehabt. Der Genius ist noch das Bewußtlose, Äußerliche, das entscheidet; und doch ist es ein Subjektives. Der Genius ist nicht Sokrates selbst, nicht seine Meinung, Überzeugung, sondern ein Bewußtloses; Sokrates ist getrieben. Das Orakel ist zugleich nichts Äußerliches, sondern sein Orakel. Es hat die Gestalt gehabt von einem Wissen, das zugleich mit einer Bewußtlosigkeit verbunden ist, - ein Wissen, was sonst auch als magnetischer Zustand unter anderen Umständen eintreten kann. Bei Sterbenden, im Zustande der Krankheit, der Katalepsie kann es kommen, daß der Mensch Zusammenhänge kennt, Zukünftiges oder Gleichzeitiges weiß, was nach dem verständigen Zusammenhang für ihn durchaus verschlossen ist. Dies sind Tatsachen, die man roherweise häufig durchaus leugnet. In dieser Weise ist das, was das Wissen, das Beschließen, das Bestimmen in sich betrifft und aus Bewußtsein und Besonnenheit geschieht, in der Form des Bewußtlosen bei Sokrates angetroffen.
Dies ist nun der Genius des Sokrates; es ist notwendig, daß dieser Genius an Sokrates erschienen ist. Es ist eigentümlich, daß bei ihm diese Form des Wissens des Innern die Gestalt eines Daimonion angenommen hat, und in Beziehung auf das Folgende müssen wir dies Verhältnis noch näher betrachten. Zu was er den Sokrates bestimmt habe und welche Form der Entscheidung früher gewesen sei, darüber spricht sich Xenophon geschichtlich auf das Bestimmteste aus.
Das Gute nämlich ist der gedachte Zweck, da entsteht Kollision von Pflichten; über diese ist auch durch Staatsgesetze, Sitte, Wirklichkeit des Lebens entschieden. In der Freiheit des Wissens, für sich, was recht, was gut sei, zu bestimmen, die wir bei Sokrates hervortreten sehen, ist dann außer diesem Allgemeinen enthalten, daß der Mensch auch für sich in Ansehung des Partikulären, was er zu tun hat, das Entscheidende ist, das Subjekt sich zum Entscheidenden macht. In dieser Rücksicht müssen wir das auffassen, was dem Standpunkte der griechischen Freiheit wesentlich war.
Der Standpunkt des griechischen Geistes ist nach der moralischen Seite als unbefangene Sittlichkeit bestimmt. Der Mensch hatte ein solches Verhältnis noch nicht, sich so in sich zu reflektieren, aus sich sich zu bestimmen; noch weniger war das vorhanden, was wir Gewissen nennen. Solches, Gesetze, Sitten usf. sind nicht nur, sondern sie werden festgesetzt, sie treten hervor; von einer Seite werden sie der Grundlage nach als Tradition angesehen, die für sich sich entwickelt ohne bestimmtes Bewußtsein. Diese Gesetze hatten nun die Gestalt, daß sie göttliche Gesetze, von den Göttern sanktioniert waren. Wir wissen, daß die Griechen für die Entschließung zwar Gesetze hatten; auf der andern Seite aber war ebenso zu entscheiden über unmittelbare Fälle sowohl in Privat- als Staatsangelegenheiten. Die Griechen entschieden aber noch nicht aus dem subjektiven Willen. Der Feldherr oder das Volk selbst nahm noch nicht die Entscheidung auf sich, was das Beste im Staate sei; ebenso auch nicht das Individuum in seinen Familienangelegenheiten. In Ansehung eines Entschlusses haben die Griechen zu Orakeln ihre Zuflucht genommen, das Orakel gefragt (dies war das Subjektive, Entscheidende), die Römer den Vogelflug; Betrachten der Opfertiere gehört auch dahin, ebenso auch, daß man einen μάντtις um Rat fragte. Der Feldherr, der eine Schlacht liefern sollte, hatte aus den Eingeweiden der Opfertiere seine Entscheidung zu nehmen, wie sich dies in Xenophons Anabasis öfter findet; Pausanias quält sich einen ganzen Tag lang, ehe er den Befehl zur Schlacht gibt8) . Dies Moment ist wesentlich, daß das Volk so nicht das Beschließende ist, das Subjekt dies noch nicht auf sich nahm, sondern sich von einem Anderen, Äußeren bestimmen ließ, - wie denn Orakel überall notwendig sind, wo der Mensch sein Inneres noch nicht so unabhängig, so frei weiß, daß er die Entschließung nur aus sich selbst nimmt; und dies ist der Mangel der subjektiven Freiheit. Und diese Freiheit ist das, was wir darunter verstehen, wenn wir in jetzigen Zeiten von Freiheit sprechen. Diese war bei den Griechen nicht so vorhanden; in der Platonischen Republik werden wir mehr davon sehen. Es gehört der modernen Zeit an, daß wir dafür stehen wollen, was wir tun; wir wollen uns nach Gründen der Klugheit entscheiden und halten es fürs Letzte. Die Griechen hatten noch nicht das Bewußtsein dieser Unendlichkeit.
Im ersten Buche von Xenophons Denkwürdigkeiten, bei Gelegenheit der Verteidigung des Sokrates über sein Daimonion, sagt Sokrates gleich anfangs: "Die Götter haben sich das Wichtigste (τὰ μέγιστα) zu wissen vorbehalten. Baukunst, Ackerbau, Schmiedekunst usf. seien menschliche Künste; ebenso Regierungskunst, Rechenkunst, auch zu Haus und im Krieg zu kommandieren, - der Mensch könne Geschicklichkeiten darin erlangen. Für jenes aber" (nämlich die wichtigen Gegenstände in diesem Felde) "sei die μαντεία (divinatio) erforderlich", die sich die Götter vorbehalten. Solches, was Recht und Unrecht, was tapfer, feig sei, wissen ebenso die Menschen. "Aber der das Feld baut, weiß nicht, wer die Früchte genießen (ernten) werde; wer ein Haus baut, nicht, wer es bewohnen wird; der Feldherr weiß nicht, ob es geraten sei, die Armee ins Feld zu führen; wer einem Staate vorsteht, ob es ihm (dem Individuum) gedeihlich oder gefährlich sei; noch wer eine schöne Frau (ϰαλήν, eine Geliebte) heiratet, ob er werde Freude daran erleben, ob ihm nicht Kummer und Leid daraus entspringen wird; noch wer mächtige Verwandte im Staate hat, kann wissen, ob es ihm nicht geschieht, wegen derselben aus dem Staate verbannt zu werden. Wegen dieses Ungewissen muß man aber zu der μαντεία seine Zuflucht nehmen", sie sei verschieden: Orakel, Opfer, Vögelflug usf. betrachten, - für Sokrates aber sei nun dies Orakel sein Daimonion gewesen.9) So drücke sich Xenophon aus. Dieses Orakel ist wesentliche Bedingung des griechischen Bewußtseins gewesen, bei ihrer Freiheit suchten die Griechen zugleich die Entscheidung in einem Äußerlichen: das Wichtigste haben sich die Götter vorbehalten. Bei uns ist dies anders. Wenn einer das Zukünftige vorausweiß im Somnambulismus oder im Sterben, so sieht man dies für eine höhere Einsicht an; näher betrachtet sind es aber nur Interessen der Individuen, Partikularitäten. Will einer heiraten oder ein Haus bauen usf., so ist der Erfolg nur für dieses Individuum wichtig; dieser Inhalt ist nur partikulär. Das wahrhaft Göttliche, Allgemeine ist die Institution des Ackerbaues selbst, der Staat, die Ehe, gesetzliche Einrichtungen; gegen dies ist das etwas Geringes, daß ich weiß, daß, wenn ich zu Schiffe gehe, ich umkommen werde oder nicht. Es ist eine Verkehrung, die auch in unserer Vorstellung leicht vorkommt; das zu wissen, was recht, was sittlich ist, ist viel etwas Höheres, als solche Partikularitäten zu wissen.
Das Daimonion des Sokrates offenbart sich in ihm auch durch nichts anderes als durch Rat über solche partikuläre Erfolge. Auf etwas Allgemeines jedoch in Kunst und Wissenschaft hat es sich nicht bezogen, vielmehr gehört dies dem allgemeinen Geiste an; es gibt dem Sokrates nur Rat, wann und ob z. B. seine Freunde reisen sollen. Allgemeines aber liegt auch darin; ein kluger Mann kann vieles vorauswissen, ob dies ratsam ist oder nicht. Bei Sokrates war es also notwendig, daß in seinem Innern die Entscheidung aber noch als δαaίμων, Orakel darüber aufging, worüber früher das Orakel entscheiden mußte. Das Daimonion steht demnach in der Mitte zwischen dem Äußerlichen der Orakel und dem rein Innerlichen des Geistes; es ist etwas Innerliches, aber so, daß es als ein eigener Genius, als vom menschlichen Willen unterschieden vorgestellt wird, - nicht als seine Klugheit, Willkür. Das Nähere in Ansehung des Daimonion des Sokrates ist mithin eine an den Somnambulismus, an diese Gedoppeltheit des Bewußtseins hingehende Form; und bei Sokrates scheint sich auch ausdrücklich etwas von der Art, was magnetischer Zustand ist, gefunden zu haben, da er öfter (im Lager) in Starrsucht, Katalepsie, Verzückung verfallen sein soll. In neueren Zeiten sahen wir dies als Starrheit der Augen, inneres Wissen, Sehen von diesem und jenem, Vergangenem, von dem, was das Rätlichste sei usw. Der Dämon des Sokrates ist so als wirklicher Zustand zu nehmen; er ist merkwürdig, weil er nicht nur krankhaft ist, sondern notwendig durch den Standpunkt seines Bewußtseins. Aber diese Rückkehr-in-sich bei Sokrates hat hier in ihrem ersten Auftreten noch die Form einer physiologischen Weise gehabt. Dies ist nun der Mittelpunkt der ganzen weltgeschichtlichen Konversion, die das Prinzip des Sokrates macht, daß an die Stelle der Orakel das Zeugnis des Geistes der Individuen getreten ist und daß das Entscheiden das Subjekt auf sich genommen hat. Damit ist die andere Seite des Sokratischen Bewußtseins vollendet. Das ist die Lebensweise und die Bestimmung des Sokrates gewesen.
7) M: Xenophon, Memorabilia IV, 1, § 1
8) M: vgl. Herodot IX, 33
9) M: Memorabilia I, 1, § 7-9, 3-4
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