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2. Wolff
Unmittelbar an Leibniz schließt sich nun die Wolffische Philosophie an; denn sie besteht eigentlich darin, daß sie ein Systematisieren der Leibnizischen ist, daher sie auch die Leibnizisch-Wolffische heißt. - Mit Wolff ist eine systematische Ausführung des philosophischen Stoffes überhaupt gegeben. Wolff hat sich um die Verstandesbildung der Deutschen große Verdienste, unsterbliche Verdienste erworben; er ist es erst, welcher nicht gerade die Philosophie, aber den Gedanken in der Form des Gedankens zum allgemeinen Eigentum gemacht und ihn an die Stelle des Sprechens aus dem Gefühl, aus dem sinnlichen Wahrnehmen und in der Vorstellung in Deutschland gesetzt hat. Dies ist, wie gesagt Seite der Bildung, die uns eigentlich hier nichts angeht, sondern vielmehr nur insofern, als diese Form des Gedankens sich als Philosophie geltend macht. Diese Philosophie wurde zur allgemeinen Bildung: das bestimmte, verständige Denken ist Grundprinzip; es breitet sich über den ganzen Kreis des Vorhandenen aus. Die geistige höhere substantielle Philosophie, das spekulative Interesse, was wir bei Böhme in einer eigenen, noch barbarischen Gestalt auftreten sahen, ist ganz ausgelöscht und ohne Wirkung in Deutschland verschwunden, auch mit Vergessen seiner Sprache.
In Christian Wolffs Lebensumständen ist dies am merkwürdigsten, daß er, geboren 1679 zu Breslau, eines Bäckers Sohn, anfangs Theologie, dann Philosophie studierte und 1707 Professor der Mathematik und Philosophie zu Halle wurde. Hier machten ihm die pietistischen Theologen, besonders [J.] Lange, die niederträchtigsten Händel. Die Frömmigkeit traute diesem Verstande nicht; ist sie wahrhaft, so geht sie auf einen Inhalt, der spekulativer Natur ist und über den Verstand hinausgeht. Als die Gegner durch ihre Schriften kein Oberwasser erhielten, so griffen sie zu Intrigen. Sie ließen es bei König Friedrich Wilhelm I., dem Vater Friedrichs II., einem barbarischen Soldatenfreunde, anbringen, daß nach Wolffs Determinismus der Mensch keinen freien Willen habe und die Soldaten daher auch nicht aus freiem Willen desertierten, sondern durch eine besondere Einrichtung (prästabilierte Harmonie) Gottes, - eine Lehre, die, wenn sie unter das Militär verbreitet würde, höchst gefährlich sein würde. Der König, hierüber höchst aufgebracht, erließ sogleich eine Kabinettsorder, daß Wolff binnen zweimal 24 Stunden bei Strafe des Stranges Halle und die preußischen Staaten verlassen sollte. Wolff verließ also Halle den 23. November 1723. Die Theologen fügten den Skandal hinzu, daß sie gegen Wolff und seine Philosophie predigten und der fromme [A. H.] Francke Gott in der Kirche auf den Knien für diese Entfernung Wolffs dankte. Allein die Freude dauerte nicht lange. Wolff war nach Kassel gegangen, ward sogleich als erster Professor der philosophischen Fakultät in Marburg angestellt, um dieselbe Zeit von den Akademien der Wissenschaften zu London, Paris, Stockholm zum Mitgliede angenommen, von Peter I. in Rußland zum Vizepräsidenten seiner neu errichteten Akademie in Petersburg ernannt. Er wurde auch nach Rußland berufen, was er aber ablehnte, erhielt aber ein Ehrengehalt, wurde von dem Kurfürsten von Bayern in den Freiherrnstand erhoben, kurz, mit äußerlichen Ehren überhäuft, die besonders damals, auch noch jetzt, vor dem allgemeinen Publikum sehr viel galten und zu groß waren, als daß sie nicht hätten in Berlin das größte Aufsehen machen müssen. - Es wurde dann in Berlin eine Kommission niedergesetzt, die ein Gutachten über die Wolffische Philosophie (denn diese hatte nicht vertrieben werden können) zu stellen hatte und die sie von aller Gefahr für Staat und Religion freisprach, für unschädlich erklärte und den Theologen den Mund stopfte und das Streiten verbot. Wolff ward von Friedrich II. gleich nach seiner Thronbesteigung 1740 sehr ehrenvoll zurückgerufen (Lange war gestorben) und nahm jetzt den Ruf an. Schon Friedrich Wilhelm hatte sehr ehrende Rückberufungsschreiben an ihn erlassen, er jedoch den Ruf anzunehmen Bedenken getragen; er traute nicht. Er wurde Vizekanzler der Universität; er hatte aber seinen Ruf überlebt, und sein Auditorium war am Ende völlig leer. Er starb 1754.1)
Wolff brachte das ganze Wissen in pedantisch-systematische Form. Wolff hat sich in der Mathematik sehr berühmt gemacht und ebenso durch seine Philosophie, welche in Deutschland lange herrschend gewesen ist. Seine Philosophie aber ist im allgemeinen Verstandesphilosophie zu nennen, die sich auf alle Gegenstände, die in das Gebiet des Wissens fallen, ausgedehnt hat: zwar erbaut auf der Leibnizischen Grundlage, so jedoch, daß das Spekulative ganz darin verschwunden ist. Wolff hat sich nun in Ansehung der Philosophie vorzüglich in Beziehung auf deutsche allgemeine Bildung verdient gemacht; und er darf vor allen als Lehrer der Deutschen genannt werden. Man kann sagen, daß Wolff erst das Philosophieren in Deutschland einheimisch gemacht hat. Tschirnhausen und Thomasius haben zugleich an diesem Verdienste teilgenommen, - ein unsterbliches Verdienst dadurch erworben, daß sie über die Philosophie in deutscher Sprache schrieben.
Einen großen Teil seiner Schriften verfaßte Wolff auch in dieser seiner Muttersprache; und dies ist wichtig. Der Titel der deutschen philosophischen Schriften ist immer Vernünftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in der Erkenntnis der Wahrheit, Halle 1712; Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, Frankfurt und Leipzig 1719; von der Menschen Tun und Lassen, Halle 1720; von dem gesellschaftlichen Leben, Halle 1721; von den Wirkungen der Natur, Halle 1723, usf. Wolff schrieb also deutsch; Tschirnhausen und Thomasius haben an diesem Ruhm teil, wogegen Leibniz nur lateinisch oder französisch schrieb. Aber man kann erst sagen, wie schon erinnert worden (s. S. 52 f.), daß eine Wissenschaft nur dann einem Volke angehört, wenn es sie in seiner eigenen Sprache besitzt; und dies ist bei der Philosophie am notwendigsten. Denn der Gedanke hat eben dies Moment an ihm, dem Selbstbewußtsein anzugehören oder sein Eigenstes zu sein; in der eigenen Sprache ausgedrückt, z. B. Bestimmtheit statt Determination, das Wesen statt Essenz usf., ist dies unmittelbar für das Bewußtsein, daß diese Begriffe sein Eigenstes sind, mit dem es immer zu tun hat, nicht mit einem Fremden. Die lateinische Sprache hat eine Phraseologie, einen bestimmten Kreis, Stufe des Vorstellens: es ist einmal angenommen, daß man, wenn lateinisch geschrieben wird, platt sein dürfe; es ist unmöglich lesbar oder schreibbar, was man sich erlaubt, lateinisch zu sagen.
Über alle Teile der Philosophie bis zur Ökonomie hinaus hat er deutsche und lateinische Quartanten geschrieben, 23 dicke Bände lateinisch, zusammen bei 40 Quartanten. Seine mathematischen Schriften machen noch besondere viele Quartanten. Leibnizens Differential- und Integralrechnung hat er besonders in allgemeinen Gebrauch gebracht. - Von Tschirnhausens und Thomasius' Philosophie ist aber ihrem Inhalte nach nicht viel zu sagen, es ist sogenannte gesunde Vernunft; es ist die Oberflächlichkeit und leere Allgemeinheit, die immer da stattfindet, wenn Anfang gemacht wird mit dem Denken. Die Allgemeinheit des Gedankens befriedigt dann, weil alles darin ist, wie ein Sittenspruch, der aber in seiner Allgemeinheit eben keinen bestimmten Inhalt hat.
Wolffs Philosophie ist nun also ihrem allgemeinen Inhalte nach im ganzen Leibnizische Philosophie, nur daß er sie systematisiert hat. Dies bezieht sich aber nur auf die Hauptbestimmungen der Monaden und der Theodizee, denen er treu geblieben ist. Die großen Verdienste Wolffs um die Verstandesbildung Deutschlands, welche jetzt ganz für sich ohne Zusammenhang mit früherer tiefer metaphysischer Anschauung hervortrat, stehen in gleichem Verhältnisse mit der Dürre und inneren Gehaltlosigkeit, in welche die Philosophie versank, die er in ihre förmlichen Disziplinen abteilte, in verständigen Bestimmungen mit pedantischer Anwendung der geometrischen Methode ausspann und gleichzeitig mit englischen Philosophen den Dogmatismus der Verstandesmetaphysik, nämlich ein Philosophieren, welches das Absolute und Vernünftige durch sich ausschließende Verstandesbestimmungen und Verhältnisse, z. B. Eins und Vieles oder Einfachheit und Zusammensetzung, Endliches und Unendliches, Kausalverhältnis usf. bestimmt, zum allgemeinen Ton erhob. Wolff hat die scholastisch-aristotelische Philosophie vollends gründlich verdrängt und die Philosophie zur allgemeinen, der deutschen Nation angehörigen Wissenschaft gemacht. Sonst aber hat er der Philosophie die systematische und gehörige Einteilung in Fächer gegeben, die noch bis auf die neuesten Zeiten als eine Art von Autorität gegolten hat:
I. Theoretische Philosophie. Er handelt zuerst 1. Logik ab, gereinigt von der scholastischen Ausführung: es ist die Verstandeslogik, die Wolff systematisiert hat; dann 2. Metaphysik. Diese enthält a) Ontologie, die Abhandlung von den abstrakten, ganz allgemeinen Kategorien des Philosophierens, des Seins (ὀν), daß das ens unum, bonum ist; das Eine, Akzidenz, Substanz, Ursache und Wirkung2) , das Phänomen usf. kommt vor; es ist abstrakte Metaphysik. b) Die nächste Lehre ist Kosmologie; das ist allgemeine Körperlehre, Lehre von der Welt. Das sind metaphysische, abstrakte Sätze von der Welt, daß es keinen Zufall gibt, keinen Sprung in der Natur3) , - das Gesetz der Kontinuität. Er schließt Naturlehre und Naturgeschichte aus. c) Dann rationelle Psychologie oder Pneumatologie, Philosophie der Seele: Einfachheit, Unsterblichkeit, Immaterialität der Seele.4) d) Natürliche Theologie: Beweise vom Dasein Gottes.5) Empirische Psychologie ist eingeschoben. Das ist theoretische Philosophie.
II. Die praktische Philosophie ist: 1. Naturrecht, 2. Moral, 3. Völkerrecht oder Politik, 4. Ökonomie.
Das Ganze ist vorgetragen in streng geometrischen Formen, Axiomen, Theoremen, Scholien, Korollarien usf. Wolff ging einerseits auf einen großen, ganz allgemeinen Umfang und andererseits auf Strenge der Methode in Ansehung der Propositionen und ihrer Beweise. Der Inhalt ist dann teils aus Leibniz genommen in Rücksicht der Philosophie oder aus unserer Empfindung, Neigung empirisch aufgenommen; und alle Cartesischen und sonstigen Bestimmungen der allgemeinen Begriffe hat er vollständig aufgenommen, Definitionen davon gegeben und auch Sätze über sie aufgestellt, die er beweist. - Es ist dies Erkennen in der Manier wie bei Spinoza, nur noch hölzerner und bleierner. Wolff verfährt so: er gibt Definitionen, sie sind die Grundlage; sie beruhen im ganzen auf unseren Vorstellungen, es sind Nominaldefinitionen. Er verwandelt unsere Vorstellungen in Verstandesbestimmungen; die Definition ist richtig, wenn sie solcher Vorstellung entspricht.
Für Deutschland (auch allgemeiner) hat er die Welt des Bewußtseins definiert, wie man es auch von Aristoteles sagen kann; er hat den ganzen Umkreis der menschlichen Vorstellungen expliziert, was für die allgemeine Bildung höchst wichtig. Der Inhalt ist eine Vermischung von abstrakten Sätzen und ihren Beweisen, vermischt mit Erfahrungen, auf deren ungezweifelter Wahrheit er einen großen Teil seiner Sätze baut und bauen und die Gründe daraus hernehmen muß, wenn ein Inhalt herauskommen soll. (Bei Spinoza ist kein Inhalt als absolute Substanz und das beständige Rückgehen in sie.) Diesen Inhalt hat er in die Form des Gedankens gefaßt, in allgemeine Bestimmungen, die dem Gedanken als solchem angehören, oder nach der Form des Gedankens. Das ist ein großes Verdienst. Was ihn von Aristoteles unterscheidet, ist, daß er sich nur verständig dabei verhalten hat; Aristoteles hat aber den Gegenstand spekulativ behandelt. Die verständige Behandlung ist dies, daß jede Gedankenbestimmung für sich festgehalten wird; der Skeptizismus dagegen konfundiert diese festen Gedankenbestimmungen.
Wolff hat nun die geometrische Methode befolgt. In der Mathematik ist der Verstand an der Stelle; das Dreieck muß Dreieck bleiben. Wolff ist der Lehrer des Verstandes unter den Deutschen gewesen. Die geometrische Methode hat schon Spinoza angewendet; Wolff hat sie auf alles, das ganz Empirische ebensogut, angewendet, z. B. in seiner sogenannten angewandten Mathematik, worin er viele nützliche Künste hineinbringt und die gemeinsten Gedanken und Anweisungen in die geometrische Form bringt, - was seinem Vortrag ein pedantisches Ansehen gibt, vorzüglich wenn der Inhalt sich dem Vorstellen gleich rechtfertigt ohne diese Form.
Die Strenge der Methode ist dann allerdings zum Teil sehr pedantisch geworden. Der Schluß ist die Hauptform; und es ist oft ein barbarischer Pedantismus, der seine ganze Steifheit gewonnen hat. In der Mathematik (vier kleine Bände) behandelt Wolff auch Baukunst, Kriegskunst. Z. B. in der Baukunst heißt ein Lehrsatz: Die Fenster müssen für zwei Personen sein. Einen Abtritt zu machen, dies ist vorgetragen als Aufgabe und Auflösung.6) - Das nächste beste Beispiel sei aus der Kriegskunst: Der vierte Lehrsatz: "Das Anrücken an die Festung muß dem Feinde immer saurer gemacht werden, je näher er derselben kommt." Statt zu sagen, weil die Gefahr desto größer ist, was selbst trivial, folgt: "Beweis. Je näher der Feind der Festung kommt, je größer ist die Gefahr. Je größer aber die Gefahr ist, je mehr muß man ihm Widerstand tun können, um seine Anschläge zu zernichten und sich von der Gefahr zu befreien, soviel möglich ist. Derowegen je näher der Feind an die Festung kommt, desto saurer muß ihm das Anrücken gemacht werden. W. Z. E. W."7) - Da als Grund angegeben ist, weil die Gefahr größer, so ist das Ganze auch falsch und kann das Gegenteil gesagt werden. Denn leistet man ihm anfangs allen möglichen Widerstand, so kann er ja der Festung nicht näherkommen, also die Gefahr nicht größer werden. Der größere Widerstand hat eine Ursache, nicht diesen albernen Grund; nämlich weil die Besatzung jetzt näher und somit in einem engen Terrain operiert, kann sie einen größeren Widerstand leisten.
Auf diese höchst triviale Weise verfährt er mit allem möglichen Inhalt. Alles Spekulative ist entfernt; wir sehen allen möglichen Inhalt in diese Behandlungsweise aufgenommen. Was diesem Inhalt zugrunde liegt, sind unsere Vorstellungen. Ob die Definitionen richtig sind, wissen wir nur, indem unsere Vorstellungen auf ihre einfachen Gedanken zurückgeführt werden. Unsere gewöhnlichen Vorstellungen werden also in die leere Form des Gedankens übersetzt. - Diese Barbarei des Pedantismus oder dieser Pedantismus der Barbarei so in seiner ganzen Ausführlichkeit und Breitheit dargestellt, hat notwendig sich selbst allen Kredit genommen und ist, ohne bestimmtes Bewußtsein, warum die geometrische Methode nicht die einzige und letzte Methode des Erkennens ist, durch den Instinkt und das unmittelbare Bewußtsein der Albernheit dieser Anwendungen aus der Mode gekommen.
1) Buhle, Geschichte der neueren Philosophie, Bd. IV, S. 571-582; Tiedemann, Geist der spekulativen Philosophie, Bd. VI, S. 511-518; Rixner, Handbuch der Geschichte der Philosophie, Bd. III, § 79, S. 195-196
2) Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Teil I, Kap. II, § 114, 120, S. 19-63 (Halle 1741)
3) Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Teil I, Kap. IV, § 575-581, 686, S. 352-359, 425
4) Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Teil I, Kap. V, § 742, 926, S. 463, 573
5) Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Teil I, Kap. VI, § 928, S. 574 ff.
6) Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, Teil I: Anfangsgründe der Baukunst, der andere Teil, Lehrsatz 8, S. 414; Aufgabe 22, S. 452-453
7) Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften, Teil II: Anfangsgründe der Fortifikation, der erste Teil. S. 570
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